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Sekunden, die in reißenden Fluten über Leben und Tod entscheiden Von Frank Jungbluth

Keine Sekunde haben die Soldaten der 7. Kompanie des Sanitätsregiments 2 und der Sanitätsstaffel Einsatz aus Köln-Wahn gezögert, als in der Nacht zum 15. Juli 2021 Flüsse wie die Ahr zu alles mitreißenden Strömen geworden sind. Sie haben viele Leben gerettet.

Die Nacht, in der die Flut kam, war grau und schmutzig, wie der Strom, zu dem die Ahr nach vielen Tagen starken Regens geworden war. Ja, der Deutsche Wetterdienst hatte gewarnt, ja, man hätte die Todesflut kommen sehen müssen, aber nur wenige wollten wahrhaben, dass sich draußen zwischen Weinbergen und Wäldern eine Katastrophe zusammenbraute, an die sie sich im Ahrtal noch 100 Jahre oder mehr erinnern werden.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 wird es laut im Block der 7. Kompanie des Sanitätsregiments 2 „Westerwald” in der Koblenzer Rhein-Kaserne. Es ist 23.30 Uhr. Alarm. Zehn Minuten, um zu packen, dann soll es ins Ahrtal gehen, das in diesen Minuten von einer Flutwelle überspült wird. Acht Kameraden sind in der Unterkunft. Hauptfeldwebel Sven Dittrich ist dabei. Drei KrKW, ein "Eagle" fahren raus. Oberfeldwebel P. ist dabei, auch Hauptbootsmann Stefan Herrow, ein Mann mit markantem Bart. Alle drei sind Notfallsanitäter, haben sich irgendwann für den Dienst in der Bundeswehr entschieden. Sie wissen, was zu tun ist. Sie wissen vor allem, dass sie es schnell tun müssen. Sie haben als Notfallsanitäter in ihrem Berufsleben vor der Bundeswehr Unfallopfer gesehen und Infarktpatienten betreut. Aber was da draußen im überfluteten Tal auf sie wartet, das können sie nur erahnen.

Hauptbootsmann Stefan Herrow von der 7. Kompanie der 2. Sanitätsstaffel „Westerwald“ vor einem Haus in Dernau. Zusammen mit seinen Kameraden nahm er das Gemeindehaus oben im Ort in Beschlag, um die Geretteten unterzubringen. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Sven Dittrich war im Kosovo und in Mali. Er kennt die Schrecken des Krieges. Aber im Ahrtal ist vieles anders. Eigentlich alles. Nichts, worauf man sich vorbereiten kann wie auf den Auslandseinsatz, für den alle intensiv wochenlang geschult werden. Wir fahren die Strecke, die sie damals – vor einem halben Jahr – auch genommen haben, um zu retten, zu bergen, das Schlimmste zu verhindern im Ahrtal, das vom Idyll zum Ort des dutzendfachen Todes werden wird. 134 Menschen werden sterben in den Fluten, 150 haben die drei Unteroffiziere des 2. Sanitätsregimentes gerettet. Die Erinnerung daran ist bis heute allgegenwärtig. Oberfeldwebel P. hat sich mehrfach mit Menschen, mit Familien getroffen, die er in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 gerettet hat. Man hat in Mayschoß und in Rech Feste gegeben für die mutigen Kameraden. Auf die Anerkennung des Landes, dem zu dienen sie ihren Eid geleistet haben, warten sie bis heute.

Der Transporter erreicht Ahrweiler, oberhalb des Kreisverkehrs stehen Container. Wir sind über die Autobahn 61 angefahren. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli war ein Teil der Strecke unterspült und unpassierbar. Er ist erst jetzt wieder freigegeben. Hier, in Notunterkünften, wohnen hunderte Flutopfer bis heute, bei der Fahrt durch den Ort sind viele Häuser menschenleer, die Erdgeschosse verwüstet. Das Wasser stand drei, vier Meter hoch, bis zum Balkon im 2. Stock, teilweise bis zum Dachfirst. Manche Häuser sind abgerissen. Die Gebäude sind markiert. Ein Haken heißt: Kann wieder aufgebaut werden. Ein Kreuz heißt: Abreißen. Überall sind Bagger, es geht voran. Es wird aufgebaut. Es sieht aus wie nach einem Krieg. Kann man wieder glücklich werden auf Grundstücken und in Häusern, wenn dort Menschen gestorben sind und die Ahr in Sichtweite fließt?

Einsatz in Erftstadt: Die San-Einsatzstaffel aus Köln-Wahn und Kameraden aus Kerpen waren Retter in der Not während der Flut vom Juli 2021. Foto: Bundeswehr/privat

Oberfeldwebel P. steht an einem verlassenen Hotel in Ahrweiler. Hier ist er vor sechs Monaten, als ihm das Wasser bis zum Bauchnabel stand, mit seinem San-Unimog an den Balkon herangefahren. Kameraden haben die Brüstung aus Holz eingerissen, durchs Loch ins Leben sind Hotelgäste aufs Dach des Krankenwagens gesprungen. Gerettet. Im letzten Moment.

Auf Trümmern, Bäumen, Autodächern und Häusern saßen die Menschen, die vor der Flut geflüchtet waren. „Wir haben hier alles mitgenommen. Aber in Dernau konnten wir nicht alle Häuser erreichen.“ Dabei stockt die Stimme von Oberfeldwebel P.

Dernau, wie der zugehörige Ortsteil Kloster Marienthal, ist ein Symbol für die Jahrhundertkatastrophe im Ahrtal. Vielleicht ist es in Altenburg, wo jedes Haus zerstört worden ist, noch schlimmer, aber hier sieht man die Apokalypse.

Die drei Kameraden, Hauptbootsmann Stefan Herrow, Hauptfeldwebel Sven Dittrich und Oberfeldwebel P., stehen am Ufer der Ahr. Die verbogenen Schienen der weggespülten Bahnstrecke stapeln sich vor uns. Die Häuser links und rechts des Weges sind zerstört. Hier ist das Gebäude, aus dem Oberfeldwebel P. und Haupbootsmann Stefan Herrow (37) einen alten Mann tot geborgen haben. Seine Frau hatte ihn noch ins Obergeschoss geschleppt, dann starb er entkräftet. Die Flut kennt keine Gnade.

Die Ahr fließt wieder ruhig durch Ahrweiler. Vor sechs Monaten war sie ein reißender Strom. Ein Lichtblick: Im Kindergarten am Ufer gegenüber spielen Mädchen und Jungen wieder. Während der Flut war das Gebäude unter Wasser. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Die drei Helfer von der 7. Kompanie des 2. Sanitätsregimentes „Westerwald“ haben viel gesehen und können nicht alles vergessen. Die Leute auf den Dächern oder im Fenster. „Du stehst am anderen Ufer des reißenden Stroms und weißt, du kannst nicht rüber.“ Überall Schutt turmhoch, Autowracks, die einem entgegenschwimmen. Auf dem Friedhof liegen die Toten der Flut. Überall einfach nur Wasser und Schlamm. Durch enge Gassen, die vor wenigen Monaten noch Sturzbäche waren, geht die Fahrt wieder ins Tal. Es ist Mittagszeit. Aus Kochzelten steigt Rauch vom Feuer, auf dem das Mittagessen gekocht wird. „Alle elf Minuten verliebt sich ein Mensch ins Ahrtal“, haben Anwohner auf die Wand eines zerstörten Hauses mit bunten Farben gemalt. Die Menschen sind sechs Monate nach der Jahrhundertflut noch gezeichnet, aber unbeugsam. Im Sommer, wenn die Sonne sich im warmen Tal hinter die Weinberge senkt, ist es schöner als in der Provence oder der Toskana. Dann will man das Schlimmste vergessen haben im Ahrtal und andernorts, wo die große Flut so furchbar gewirkt hat.

Oberfeldwebel Nick Thiele kann sich an die Evakuierung von Patienten aus dem Krankenhaus Erftstadt noch gut erinnern. Es war Rettung in letzter Minute. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Ortswechsel: Erftstadt, Rhein-Erft-Kreis. Burg Blessem, Blessem steht am Abgrund. Nichts ist wie vorher. Nein, sie haben keine Toten gesehen, sie und andere Helfer waren schneller als der Tod, aber die Soldaten der SanStaffelEinsatz aus dem Sanitätsunterstützungszentrum in Wahn bei Köln haben ihr eigenes Leben riskiert, um Menschen aus Altenheimen zu evakuieren, Kinder, Frauen und Männer von Dächern und aus Häusern zu holen.

Stabsunteroffizier Anna Stupp war mit den Kameraden der San-Einsatzstaffel aus Köln-Wahn in der Flutnacht in Blessem im Einsatz. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Wir stehen an der Abbruchkante in Blessem, Stadt Erftstadt, im Hintergrund die Burg. Hier hat das Wasser eine Kiesgrube unterspült in der Schicksalsnacht im Sommer 2021. Häuser wurden mitgerissen, eine Straße, die ganze Kanalisation, Teile der Burg. Stabsunteroffizier Anna Stupp steht mit ihren Kameraden an der Stelle, wo alles geschah. Oberfeldwebel Nick Thiele hat mit ihr und den anderen Menschen aus einem Krankenhaus und einem Altenheim gerettet.

Oberstabsfeldwebel Stefan Sprengers ist als Vorsitzender Sanität Ansprechpartner für die Soldaten des Sanitätsdienstes. Er ist seit 37 Jahren in der Truppe. Ein halbes Jahr nach der Flut trifft er die Retter in Blessem. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Sie sind bis zu zwei Meter tief ins trübe Wasser gefahren, der Unimog ist eigentlich für 1,20 Meter ausgelegt, aber in dieser Nacht war das egal. Hauptsache, Menschen retten. Heute ist kaum mehr etwas von der Katastrophe zu sehen in Blessem. Nur die Kiesgrube erstreckt sich wenige Meter von uns im Tal. Wie ein gieriger Schlund. Teile der Burg sind geblieben. Die Grube ist wie eine Wunde, ein Mahnmal dafür, dass niemand und nichts der Urkraft des Wassers etwas entgegensetzen kann. Überall Boote, die Rettungswagen fahren rückwärts an die Fenster des Krankenhauses, denn der Eingang ist schon überflutet. „Das war ein Einsatz wie kein anderer“, sagt Nick Thiele.

Hauptfeldwebel Michael von Ahlen koordinierte den Einsatz in der Nacht. Es war eine Lage, die niemand zuvor so erlebt hatte: „Darauf kann man sich nicht vorbereiten.“

„Wir standen bis zum Bauchnabel im Wasser und waren immer auf der Suche nach Überlebenden.“

Zurück an den Hängen oberhalb der Ahr: Tief ins dunkle Ahrtal sind Hauptbootsmann Stefan Herrow und Hauptfeldwebel Sven Dittrich in der Flutnacht gefahren. Die Bahnstrecke am rechten Ufer war da schon weggerissen, die Brücken stürzten ein, die Straßen waren unauffindbar, also haben sie sich – der militärischen Ausbildung sei Dank – über Weinberge und durch Wälder und Felder oberhalb von Marienthal durchgekämpft. Als sie den Ortskern von Marienthal erreichen, zeichnet sich in der Dunkelheit ein Bild der Zerstörung und Verwüstung. Im Aufbau des SanKrKw saßen die Menschen nach der Rettung, manche schafften es nur aufs Dach des Lkw. Vier Kranke können normalerweise im Wagen liegend transportiert werden, sieben passen hinein, wenn sie sitzen, in dieser Nacht waren es bis zu 14 Menschen, drei Katzen, zwei Hunde. „Hauptsache, die Leute kommen hier heraus, alles andere war nicht mehr wichtig.“

Oberfeldwebel Lukas Stark war mit seinen Kameradinnen und Kameraden im Einsatz in Erftstadt. Eine unterspülte Kiesgrube riss bei der Flut Häuser und Menschen in den Abgrund. Foto: DBwV/Frank Jungbluth

Oberfeldwebel P. steht an einem kleinen Bachlauf, drüben auf dem Baum kauerte in der Flutnacht ein Junge, der sich mit einem Sprung auf den KrKw retten konnte. Derweil trieben Leichen vorbei. Man kann spüren, wie den Oberfeldwebel die Ereignisse wieder erreichen und einholen. Die Stimme versagt ihm, als er berichtet. Eine ältere Dame wartet in der Nacht der Katastrophe auf einem Tisch stehend auf die Retter von der Bundeswehr. „Man wusste nicht, rutscht man weg, macht man einen falschen Schritt, dann hätte man im Wasser gelegen“, sagt er. Das wäre für die Opfer der sichere Tod gewesen. Die alte Dame überlebt, auch ihren Mann können die Sanitäter retten. „Über vieles denkt man jetzt im Nachhinein nach, wenn man in der Situation ist wie in der Nacht und den darauffolgenden Tagen, dann handelt man einfach nur.“

Was wäre gewesen, wenn die Sanitätssoldaten mit ihrem krisen- und kriegserprobten Material nicht so schnell zur Stelle gewesen wären? „Ich denke, es hätte noch mehr Tote gegeben“, sagt Hauptfeldwebel Sven Dittrich.