Das verlorene Paradies
Non c'è più paradiso – es gibt kein Paradies mehr – heißt ein Text in dem preisgekrönten Erzählband Cinema naturale von Gianni Celato. So wie die in diesem Buch versammelten Geschichten auf den ersten Blick wie Bizarrerien oder Spinnereien wirken und sich erst auf den zweiten Blick als philosophische Gedanken über die Natur des Menschen zu erkennen geben, so muss man auch näher herantreten und sich auf die oftmals versponnenen Zeichnungen von Alexander Johannes Kraut einlassen. Erst dann wird man verstehen, dass sich der Künstler mit jedem einzelnen Blatt auf die Suche nach einem verlorenen Paradies begibt.
Alexander Johannes Kraut wurde 1965 in Bernbeuren im Allgäu geboren. Nach einer Ausbildung zum Kraftfahrzeugmechaniker und dem Besuch der Berufsfachschule für Holzbildhauer in Oberammergau absolvierte er von 1990 bis 1997 ein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Seine Zeichnungen und druckgrafischen Arbeiten waren in zahlreichen Ausstellungen, unter anderem in New York, Mexiko City und Berlin, zu sehen. Der Künstler lebt heute wieder in Bernbeuren, unterhielt jedoch viele Jahre lang ein Atelier in Berlin. Stadt und Land spiegeln sich gleichermaßen in seinem Werk.
Zeichnend, so könnte man sagen, befragt Alexander Johannes Kraut die Welt nach seinem eigenen Standort. Und dabei scheint es ihm mehr um den Reiz des Suchens als um das Finden von Antworten zu gehen, mehr um den physischen Vorgang des Zeichnens als um das Erzeugen von Bildern. Am Tisch sitzend und zeichnend empfinde er einen Zustand der Seligkeit, der sich aus dem Zuschauen am eigenen Tun speise, sagt der Künstler selbst. Und doch geschieht sein Zeichnen nicht ohne den direkten Bezug zur Außenwelt.
In den Jahren, in denen Alexander Johannes Kraut in Berlin lebte, entstanden Arbeiten, die in mehrfacher Hinsicht die Natur zum Thema hatten: Extrem großformatige Linoldrucke, in denen sich feingliedrige Strukturen zu Zellen, Ansammlungen, Inseln, Kontinenten und schließlich zu Weltkarten formten. Bleistiftzeichnungen, die das Rauschen des Meeres und die Schaumkronen in der Brandung, das Aufbäumen und Ausschwingen des Wassers sichtbar machen. Filigrane Netzwerke, Linien, Ausformungen, Gespinste und Verdichtungen, die ebenso auf Winzigkeiten unter einem Mikroskop wie auf die Unendlichkeit des Weltalls verweisen könnten. Und auch physisch ist die Natur in diesen Arbeiten zugegen: Etwa wenn der Künstler feinsten Wüstensand auf das Papier streut, auf dem er arbeitet. Wenn er geschnitzte Zeichenstöcke über das Papier rollt und damit Graphitspuren verwischt oder wenn er Sepiazeichnungen zwischendurch ins Wasser legt. Wenn er mit Grashalmen druckt oder sogar ein Spinnennetz einfängt und auf der Druckplatte fixiert.
Parallel dazu entstanden Bilderzählungen, die das Leben in der Großstadt reflektieren. Aus einer einzelnen Figur auf einem kleinen Blatt wurde der „Schachtelmann“, der sich als Protagonist eines Films zu erkennen gab, schließlich eine Leinwand für seinen Film einforderte und dann auch noch einen Kinosaal, in dem das Publikum Kopf an Kopf sitzt. Und wie Kraut beim Linoldruck einzelne Motive aneinanderfügt, bis er eine ganze Welt auf seiner imaginären Landkarte abgebildet hat und wie er bei diesem Patchwork die Kanten der Druckplatten gezielt als Gestaltungsmittel einsetzt, so stückelt er auch beim Zeichnen hier ein Blatt an und dort noch ein Blatt, lässt Nahtstellen sichtbar, betont sie zuweilen sogar noch mit einem schwarzen Kreidestrich.
Manche dieser von Figuren bevölkerten Zeichnungen lassen an Sequenzen aus einem Zeichentrickfilm denken. Es sind Bildgeschichten, die sich dem Betrachter nicht auf den ersten Blick erschließen – und manchmal auch nicht auf den zweiten. Es gibt Männer in Arbeitshosen und Gummistiefeln, Frauen mit Kopftüchern. Haben sie sich wie eine ländliche Hochzeitsgesellschaft zum Gruppenfoto versammelt oder sind sie zu einem wütenden Protestmarsch gegen den Zeichner angetreten? Wer ist der barfüßige Mann, der mit geschlossenen Augen neben einem Auto im Gras liegt? Ein Unfallopfer oder ein Müßiggänger? Und dann ist da noch dieser Junge, der einen Stein aufhebt, einen Stein wirft, ihm auf seinem Flug lange nachblickt, ihn im Wasser versinken sieht: Ist das eine chronologische Abfolge? Oder geschieht vielmehr alles gleichzeitig? Oder könnte es nur geschehen? Ist es eine Erinnerung oder ist es ein Wunschtraum? Was weiß dieser Junge über das verlorene Paradies? Und was weiß der Künstler Alexander Johannes Kraut darüber? Er präsentiert uns mit seinen Zeichnungen wundersame Panoramen des Nichtwissens und scheint doch die geheimen Zusammenhänge der Welt zu kennen. Und vielleicht kennt er auch den Bettler aus Celatis Erzählung, dem Gott anvertraut hat, dass er das Paradies abgeschafft hat, weil er der Menschen überdrüssig war, der eitlen und dummen ebenso wie der streberhaften und frommen?
Katja Sebald
konstantin unwohl - trockne deine träne
Dank
Bedanke mich herzlich bei Katja Sebald für ihren sensiblen, einfühlsamen Textbeitrag und bei Paulo Mulatinho für die einprägsame digitale Präsentation.
Die Ausstellung ist vom 29./30. April 2023 bis 10. Juni zu den Öffnungszeiten der Galerie zu besuchen.
Sollten Sie den Wunsch haben, einen Einzeltermin außerhalb der Öffnungszeiten zu erhalten, bitten wir um telefonische Anmeldung.
galerie 13 - fritz dettenhofer