Der 31-jährige Hauptgefreite a.D. war Soldat in der Panzerbrigade 21 „Lipperland“. Ein Scharfschütze, dessen Leidenschaft das Dienen war. Am 2. Juni 2011 fiel Stephan Kremers Freund Alexej Kobelew beim Anschlag der Taliban auf einen Schützenpanzer „Marder“.
Es gibt diese Momente, dann reicht ein Geräusch, damit Stephan Kremer, der eben noch die Ruhe selbst war, die Fassung verliert. Dann denkt er an die Stube in der Lipperland-Kaserne, an das Doppelbett. Er schlief unten, Alexej Kobelew oben. Im OP-North in Afghanistan schlief Alexej im Zelt nebenan. Zwei Freunde, Kameraden, die nicht nur die gemeinsame Herkunft einte. Beide sind in Russland groß geworden, bevor ihre Familien nach Deutschland ausgereist sind. Beide waren leidenschaftliche Soldaten.
„Seit ich in der 8. Klasse erlebt habe, wie ein Stabsfeldwebel begeistert von der Bundeswehr erzählte, wollte ich Soldat werden. Ich wollte meinem Land dienen“, sagt Stephan Kremer bis heute. So wie Alexej Kobelew, sein Freund. Stephan lebt, Alexej, den seine Kameraden sehr schätzten, ist tot. Aber Stephan lebt mit dem alles zerfressenden Gefühl, dass er das vielleicht hätte verhindern können, dass er nicht da war, als sein Freund fiel, weil an jenem Tag der Hauptgefreite Stephan Kremer nicht mit im „Marder“ saß, sondern auf dem Weg war, um die Papiere für seine Weiterverpflichtung zu unterschreiben.
Alexej Kobelew saß vorne im „Marder“ und fuhr den 33 Tonnen schweren Schützenpanzer mit der mächtigen 20-Millimeter Maschinenkanone, als Taliban-Terroristen gut 300 Kilogramm Sprengstoff zündeten, um den Panzer zu zerstören, der auf Patrouille war an jenem 2. Juni 2011 um 7.24 Uhr Ortszeit in der Provinz Baglan, unweit von Kundus. Der „Marder“ war ein mächtiger Angstgegner für die Taliban, seine Zerstörung ein Propagandaerfolg, auch wenn der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) danach erklärte, dass die Terroristen an Boden verlieren, wenn sie schon so heimtückisch operieren müssten. Stephan Kremer erfuhr es von einem Kameraden. „Charly wurde angesprengt“, sagte der nur. „Charly“ ist der Zug, in dem Kobelew und Kremer zu Hause waren. Vier Kameraden wurden verwundet, der Oberstabsgefreite Kobelew war gefallen.
Der Knall der Detonation beendete nicht nur Alexej Kobelews Leben, er riss auch eine tiefe Narbe in die Seele seines Freundes Stephan Kremer. Als er zurück ins Feldlager kam, hielt er die Totenwache für seinen Freund. „Das stand für mich außer Frage. Es war mir eine Ehre.“ Stephan Kremer war 21, als die Sache mit dem Anschlag geschah. Heute, zehn Jahre später, ist er Vater zweier Kinder, verheiratet, er hat ein Haus gebaut in der Zwischenzeit, einen neuen Beruf gelernt, ist Maurer geworden, aber dennoch ist alles anders, seit er 2019 endlich die Erklärung dafür bekam, warum seit dem 2. Juni 2011 in Afghanistan nichts mehr war wie vorher im Leben des Hauptgefreiten Kremer. Die Ärzte diagnostizierten PTBS, die Krankheit, die einen das ganze Leben verfolgt. Posttraumatische Belastungsstörung, der Name für einen Schatten auf der Seele, der nie wieder vergeht.
Wenn Stephan Kremer von der Bundeswehr, von den Kameraden und der Kameradschaft spricht, dann spürt man sehr deutlich in diesem Gespräch, dass es nichts gibt, was er jetzt lieber wäre. In diesem Moment. Wahrscheinlich für immer. Er wäre gerne wieder Soldat. Aber 2013 musste er die Bundeswehr verlassen. Er wäre so gern geblieben.
Die Vorgesetzten, die kurz vor dem Anschlag mit besten Beurteilungen noch seine Weiterverpflichtung empfohlen hatten, seien von ihm abgerückt. Aus SaZ 4 wird nicht SaZ 12, für Stephan Kremer eine Nachricht, die er bis heute nicht verstehen kann. Er sucht immer noch einen Weg zurück in die Truppe, er hat sich einen Anwalt genommen und führt einen Rechtsstreit. Er will wieder zur Bundeswehr, mit seinen 31 Jahren hält er sich für jung genug. Vielleicht sucht er die Nähe der Truppe auch, weil niemand sonst als seine Kameraden so gut verstehen kann, was mit ihm passiert ist vor zehn Jahren.
„Ich hätte nach diesem Ereignis einfach nur Zeit gebraucht“, sagt Stephan Kremer heute. Aber der Zugführer sagt, das Leben müsse schnell weitergehen. „Wann nimmst Du wieder Deine Waffe und fährst mit uns raus?“ hat er gesagt. „Aber ich konnte noch nicht, ich musste erst raus aus dem Tunnel, bevor ich als Scharfschütze wieder meinen Auftrag hätte erfüllen können. Ich habe mich gefühlt, als würde ich an der Trauer ersticken.“
So allein hat sich Stephan Kremer noch nie gefühlt, sagt der Hauptgefreite a.D. heute. „Jeder hat seine Art, Trauer zu bewältigen. Meine Vorgesetzten meinten, man solle schnell wieder in den Einsatz. Ich hätte einen Kameraden gebraucht, der sagt: Wir schaffen das zusammen.“
Stephan Kremer hat seinen Weg gefunden, das Chaos im Kopf und in der Seele zu ordnen. Er rappt, schreibt Lieder über sein Leben, über seine Zeit als Soldat. Einer der Songs hat den Titel „PTBS“. Es ist ein harter, ein rauer Beat. „Da ist Krieg in meinem Kopf, es blutet das Herz, dann vergeht der Schmerz, ich habe PTBS.“ Ein Satz, der alles erklärt, was von Stephan Kremers Leben am Ende übriggeblieben ist.
Stephan Kremer war auch Gast in unserem Podcast. Im Gespräch mit unserem Chefredakteur Frank Jungbluth schildert er, wie der Rapp ihm hilft, mit seiner Erkrankung umzugehen.
Die Bilder auf dieser Seite sind Arbeiten von Daniela Skrzypczak, die im Rahmen ihrer Serie „Gesichter des Lebens“ entstanden sind. Die preisgekrönte freie Fotografin hat bereits zahlreiche Veteraninnen und Veteranen portraitiert. Weitere Infos zu ihrer Arbeit gibt es auf der Website www.demipress.de.
Ihr Fotoprojekt ist zu finden unter: www.gesichter-des-lebens.de