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30 Jahre Armee der Einheit Von Jan Meyer, Michael Rudloff und Yann Bombeke

Es war ein Tag der Freude: In ganz Deutschland gingen die Menschen auf die Straßen, umarmten sich, jubelten im Schein der Feuerwerke: Am 3. Oktober 1990 war die deutsche Teilung überwunden, die Wiedervereinigung endlich auf friedlichem Weg erreicht, was noch wenige Monate zuvor kaum ein Mensch für möglich gehalten hätte.

Berlin, 3. Oktober 1990: Die Menschen feiern die Wiedervereinigung. Foto: Bundesarchiv

Manch einer blickte aber vielleicht auch etwas sorgenvoll in eine Zukunft, die zwar Freiheit versprach, aber doch auch viel Ungewissheit mit sich brachte. Das gilt sicherlich besonders für die Angehörigen der Nationalen Volksarmee, die an jenem 3. Oktober 1990 aufhörte zu existieren: Eine der zuvor schlagkräftigsten Armeen des Warschauer Paktes wurde einfach aufgelöst und in die Bundeswehr integriert. Was würde nun aus ihren Soldaten passieren? Unsicherheit auch auf westlicher Seite bei der Bundeswehr: Wie sollte man umgehen mit den neuen Kameraden, die zuvor Genossen waren? Neben der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 ist es ein weiterer Glücksfall der deutschen Geschichte, dass aus zwei jahrzehntelang hochgerüsteten und verfeindeten Streitkräften eine Armee der Einheit wurde. Auch der Deutsche BundeswehrVerband war in diesen Zeiten schon jenseits des Eisernen Vorhangs aktiv, knüpfte früh Kontakte zur „anderen“ deutschen Armee. Doch dazu später mehr.

Berlin im Oktober 1988: Schützenpanzer der NVA bei der Parade zum 39. Jahrestag der Gründung der DDR. Nur zwei Jahre später ist eine der schlagkräftigsten Armee des Warschauer Paktes Geschichte. Foto: Bundesarchiv

Der Wiedervereinigung waren turbulente Monate vorausgegangen. Gegen Ende des Jahrzehnts begann das marode DDR-System zu erodieren. Im Laufe des Jahres 1989 wuchs der Unmut in der Bevölkerung. Protest, der lange Jahre nur hinter vorgehaltener Hand im engsten Familienkreis und in den eigenen vier Wänden kundgetan wurde, verlagerte sich zunehmend in den öffentlichen Raum, um schließlich lautstark in Massendemonstrationen gegen das Regime auf den Straßen der ostdeutschen Städte zu münden. Immer hilfloser agierte die sozialistische Führung, bis am 9. November alle Dämme in Form des Falls der Mauer brachen.

November 1989: Der Dammbruch erfolgt in Form des Mauerfalls. Foto: Lear 21, CC BY-SA 3.0

Alle Welt blickte in diesen stürmischen Zeiten auf die Nationale Volksarmee. Die Bilder vom Juni 1989 aus Peking waren noch frisch, als Panzer der chinesischen Volksbefreiungsarmee den Protest des Volkes, das sie eigentlich verteidigen sollte, auf dem Tian`anmen-Platz blutig niederwalzte. Würde die DDR-Führung zu ähnlichen Mitteln greifen, um die Menschen von den Straßen zu vertreiben? Die NVA und ihre Panzer blieben schließlich in den Kasernen. Dass die hochgerüstete Streitmacht nicht eingriff, ist vermutlich ihre herausragendste Leistung im Schein der Geschichte. Nur so konnte auch später die Vereinigung der Streitkräfte in Form einer „Armee der Einheit“ vollzogen werden.

Nach dem Zusammenbruch der alten Strukturen und dem Sturz der alten Führung erkannten sowohl der neue Regierungschef Hans Modrow als auch der neue Verteidigungsminister, Admiral Theodor Hoffmann, die Notwendigkeit von Reformen. Am 20. November wurde daher in Strausberg, dem Sitz des Ministeriums für nationale Verteidigung, die Militärreform eingeleitet. Dazu wurde ein Apparat mir rundem Tisch, Regierungskommission und Konsultationszentrum geschaffen. Die Reform nahm Fahrt auf, erst langsam, dann so rasant, dass sie der Stellvertreter des Chefs der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden, Generalmajor Prof. Dr. Rolf Lehmann, als „Perestroika im Überschalltempo“ bezeichnete. Die neue Armeeführung versuchte, sich den veränderten Bedingungen anzupassen: Man trennte sich von Generalen, die schon durch ihre Dienststellung zu eng mit dem alten System verbunden waren.

Anfang 1990 beschleunigten sich die Ereignisse erheblich: In der Ausbildungsbasis Beelitz streikten am 2. Januar Soldaten. Etwa 300 Wehrpflichtige versammelten sich vor ihrer Kaserne. Sie hatten Unterschriften für eine Resolution gesammelt, die sie der Nachrichtenagentur ADN übergaben, belagerten eine Fernverkehrsstraße, hielten Autos an und knüpften die Rückkehr in ihre Dienststelle und die Aufnahme des Dienstes an konkrete Zusagen. Ein Auslöser dafür war wohl die Tatsache, dass der Wunsch der Soldaten, zum Jahreswechsel ausnahmsweise mit einem Glas Sekt anstoßen zu dürfen, von den Vorgesetzten barsch abgelehnt wurde. Der Funke von Beelitz sprang über auf Standorte in der ganzen DDR; überall verweigerten Soldaten Befehle, wählten Soldatenräte und gingen auf die Straße.

Der Minister reagierte. Er ordnete eine Reihe von Sofortmaßnahmen an, dazu gehörten unter anderem die Ankündigung der Reduzierung des Wehrdienstes von 18 auf zwölf Monate, die vorzeitige Entlassung der Grundwehrdienstleistenden im dritten Diensthalbjahr, die Auflösung der ausschließlich für den Einsatz in der Volkswirtschaft geschaffenen Strukturelemente, die Einführung der 5-Tage-Arbeitswoche bei einer Arbeitszeit von 45 Stunden, die Durchsetzung der 50-Prozent-Regel für Ausgang und Urlaub und der Übergang von der Anrede „Genosse“ beziehungsweise „Genossin“ auf „Herr“ beziehungsweise „Frau/Fräulein“. Im Ergebnis waren damit wesentliche Forderungen der Mannschaften erfüllt, die Gefechtsbereitschaft der NVA war jedoch nur noch begrenzt aufrechtzuerhalten.

Das hatte sich die Führung der NVA nicht träumen lassen: Wie hier in Cottbus gingen im Januar 1990 Soldaten auf die Straße, wählten Soldatenräte und erhoben Forderungen – beispielsweise nach einer Verkürzung des Wehrdienstes. Foto: Bundesarchiv

Am 18. März 1990 fanden die ersten und einzigen freien Wahlen zur Volkskammer der DDR statt. Das Ergebnis kam für viele in der NVA überraschend: Statt der SPD gewann die „Allianz für Deutschland“, gebildet aus CDU, DSU und Demokratischem Aufbruch. Die neue große Koalition vereinbarte, schnellstmöglich die deutsche Einheit nach Artikel 23 des Grundgesetzes zu verwirklichen. Neuer Minister, jetzt für Abrüstung und Verteidigung, wurde der Pfarrer Rainer Eppelmann – ein erklärter Pazifist und ehemaliger Bausoldat.

Die zehn Wochen vor der Volkskammerwahl waren die intensivste und ereignisreichste Zeit der Reform. Vieles wurde erreicht: Die Reduzierung der Personalstärke von etwa 170.000 auf rund 90.000 Mann, die Einführung von Zivildienst, die Abschaffung der ständigen Gefechtsbereitschaft, die Einführung der 5-Tage-Woche, die Auflösung der Partei- und Politorgane. In der Folge erlahmte das Interesse an Reformen.

Nach den Wahlen herrschte in der NVA große Verunsicherung. Diese Verunsicherung überspielte man, allen voran der neue Minister Rainer Eppelmann, indem man den Soldaten versicherte, dass die NVA auch nach der Vereinigung weiterbestehen würde. Die Soldaten in der NVA nahmen diese Perspektive dankbar an. Sie ließen sich personell reduzieren, materiell abrüsten und bekamen immer wieder gesagt, dass schon ihr Anteil an der friedlichen Revolution in der DDR ihnen weiterhin eine Existenzberechtigung gebe. Hätten sie die Diskussion dieser Frage in der Bundesrepublik verfolgt, hätten sie gemerkt, dass diese Perspektive dort niemandem sympathisch war.

Der letzte DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann, Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg und Generalleutnant Jörg Schönbohm (v.l.) bei der Übernahme der NVA am 3. Oktober 1990. Foto: Bundeswehr.de

Der nächste Schritt auf dem Weg in Richtung Wiedervereinigung war die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli. Damit wurde die D-Mark als Zahlungsmittel in der DDR eingeführt und die wichtigsten Wirtschafts- und Sozialgesetze der Bundesrepublik übernommen.

Am 15. Juli reiste Bundeskanzler Helmut Kohl in den Kaukasus und verständigte sich mit Michail Gorbatschow darauf, dass das vereinte Deutschland selbst und frei bestimmen könne, welchem Bündnis es angehören wolle. Als am 31. August der Einigungsvertrag unterschrieben wurde, war darin festgelegt, dass alle Entscheidungen über die NVA beim Bundesministerium der Verteidigung lagen. Die Erbitterung in der NVA darüber war riesig, einige Soldaten fühlten sich von Eppelmann schlimmer betrogen als von der alten Führung. Beide deutschen Parlamente stimmten am 20. September dem Einigungsvertrag zu. Rainer Eppelmann und der Oberkommandierende des Warschauer Paktes unterzeichneten wenig später die Herauslösung der NVA.

Am 3. Oktober, dem Tag des Beitritts, wurde die NVA schließlich aufgelöst. Der Bundesminister der Verteidigung übernahm das Kommando über 93.000 Soldaten der nun ehemaligen NVA, die so Angehörige der Bundeswehr in einem besonderen, vorläufigen Dienstverhältnis wurden. Als Befehlshaber des Bundeswehr-Kommandos Ost setzte er den Chef seines Planungsstabes, Generalleutnant Jörg Schönbohm, ein.

Rund 2000 Offiziere der Bundeswehr übernahmen die leitenden Positionen in den Truppenteilen und Stäben der NVA. Von den bis zu diesem Zeitpunkt verbliebenen Berufsoffizieren lehnten rund 7000 den Übertritt in die Bundeswehr ab, weitere 13.000 schieden bis zum 31. Dezember 1990 aus. Von den restlichen 12.000 Ex-NVA-Offizieren stellten circa 11.200 einen Antrag auf Übernahme als Soldat auf Zeit. Von ihnen wurden 6000 als Offiziere und circa 500 als Unteroffiziere übernommen.

Die Übernahme der Nationalen Volksarmee wird seither als Musterfall der Vereinigung betrachtet, angesichts der Zahlenverhältnisse wirkt sie allerdings eher wie eine Abwicklung. Die Militärreform hatte keine Chance, da sie von der Zeit überholt wurde – sie wurde allerdings auch viel zu spät begonnen. Der Reformbedarf war schon lange erkennbar.

Der DBwV im Osten

Schon in der Zeit, als noch niemand den Fall der Mauer auf dem Schirm hatte, streckte der Deutsche BundeswehrVerband seine Fühler in den Osten aus. Im Februar 1988 reiste eine hochrangige Delegation des DBwV unter der Leitung seines Bundesvorsitzenden Oberst Rolf Wenzel auf Einladung der „Sowjetischen Generale und Admirale für Frieden und Abrüstung“ nach Moskau. Auf sowjetischer Seite zeigte man sich interessiert, „die größte soldatische Interessenvertretung der westlichen Welt“ kennenzulernen und mit ihr „sicherheitspolitische und soldatische Themen“ zu erläutern. Eine Mission, die im Bundesministerium der Verteidigung, damals unter der Leitung von Minister Manfred Wörner, mit Skepsis zur Kenntnis genommen wurde. Man warnte vor der Gefahr, dass sich der DBwV von der sowjetischen Propaganda missbrauchen lassen könnte.

Auch innerhalb des DBwV wurde dieser symbolische Schritt kontrovers diskutiert. Einige Mitglieder verließen aus Protest den Verband, andere unterstützten den Kurs der Verbandsführung. Auf der Leserbriefseite des Verbandsmagazins fragte ein Oberstleutnant a.D., ob der DBwV schon einen Versuch unternommen habe, „mit der Nationalen Volksarmee (NVA) in der DDR Kontakte aufzunehmen?“

Unterstützt durch Abgeordnete des Deutschen Bundestages, vor allem aber durch Außenminister Hans-Dietrich Genscher, nahm der Bundesvorsitzende tatsächlich Verbindung zu einem für Militärfragen zuständigen Sekretär der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundesrepublik auf. Dabei ging es nicht in erster Linie um Vertrauensbildung, sondern um die Sorge, wie sich die Nationale Volksarmee angesichts der im Frühjahr 1989 zunehmend offen ausgetragenen politischen Spannungen verhalten würde. In der Führung des DBwV sah man die Gefahr, dass sich ein Blutbad wie auf dem Platz des himmlischen Friedens zu einem Flächenbrand in Mittel- und Osteuropa ausweiten könnte.

Der Sekretär der Ständigen Vertretung der DDR nahm das Gesprächsangebot des DBwV an. Überraschend wies er den Vorschlag des Bundesvorsitzenden Rolf Wenzel, die NVA bei einer Demokratisierung und auf dem Weg zu einer Inneren Führung nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu unterstützen, nicht erwartbar empört zurück, sondern äußerte Interesse an einer Fortsetzung der Kontakte. Offensichtlich stand dies im Zusammenhang mit Bestrebungen zur Militärreform, über die Offiziere verschiedener Führungsebenen der NVA in diesen Monaten diskutierten. Seit Mitte 1989 beriet eine „Zentrale Initiativgruppe“, der unter anderem Oberst Horst Kirchhübel angehörte, über einen Berufsverband für Soldaten und informierte sich über die Grundsatzdokumente des Deutschen BundeswehrVerbandes.

Treffen des DBwV-Bundesvorsitzenden Oberst Rolf Wenzel (2.v.r.) und des langjährigen Schatzmeisters Hauptmann Martin Michels (3.v.r.) mit dem Minister für Nationale Verteidigung, Admiral Theodor Hoffmann (r.). Foto: DBwV

Das Kollegium des Verteidigungsministeriums schlug schließlich am 6. Dezember vor, „einen Verband der Berufssoldaten und einen Verband der Reservisten der DDR“ ins Leben zu rufen. Eine „Arbeitsgruppe Demokratische Mitbestimmung“ übernahm die Vorbereitung für die Gründung. Um die Basisgruppen zu einem einheitlichen Verband zusammenzuführen, bildeten 23 Offiziere eine zentrale Initiativgruppe. Eine Organisationsgruppe unter der Leitung Horst Kirchhübels bereitete für den 20. Januar 1990 eine Tagung der „bevollmächtigten Vertreter“ in Leipzig vor.

Ende des Jahres 1989 nahm der DBwV nun offiziell Kontakt zur Führung der NVA auf. Im Gästehaus des Ministeriums für Nationale Verteidigung erläuterten Oberst Wenzel und der langjährige Schatzmeister des Verbands, Hauptmann Martin Michels, am 19. Dezember 1989 dem Personalchef der NVA, General Harald Ludwig, und anderen Stabsoffizieren Struktur und Arbeitsweise des DBwV. Dabei wurde deutlich, dass die Gesprächspartner getrennte Verbände für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften planten, da sie negative Auswirkungen auf die militärische Disziplin und Hierarchie befürchteten.

Am 20. Januar gründeten 520 Vertreter von 1078 Basisgruppen aller Teile der NVA in der Leipziger Georg-Schumann-Kaserne den Verband der Berufssoldaten der DDR als Interessenvertretung der Offiziere und Unteroffiziere und wählten Oberst Dr. Eckhard Nickel zum Vorsitzenden. Die Grundwehrdienstleistenden blieben zunächst noch außen vor.

Die Delegation des DBwV im Februar 1990 beim Verband der Berufssoldaten der DDR im Gästehaus des Ministers für Nationale Verteidigung. Foto: DBwV

Der Verband vertrat die Interessen seiner Mitglieder an den Runden Tischen und brachte sich in die Debatte um mögliche Perspektiven der Armee in einem geeinten Deutschland ein. Dabei vertiefte sich die Kooperation zwischen VBS und DBwV. In gemeinsamen Seminaren, durch Patenschaften, die Hilfe des DBwV bei rechtlichen Fragen, der Erarbeitung von Dokumenten und der Pressearbeit, leisteten beide Verbände einen wesentlichen Beitrag zum Abbau gegenseitiger Feindbilder. Bis zum Oktober 1990 tauschten sich 70.000 Mitglieder beider Organisationen aus.

Bald wurde deutlich, dass es keinen Fortbestand zweier Armeen in einem vereinten Deutschland geben wird. Damit hatte der VBS als eigenständige Interessenvertretung aktiver Soldaten keine Zukunft. Ein Anschluss an den DBwV wäre allerdings politisch kaum zu vermitteln gewesen. Am 29. September entschied ein Sonderverbandstag die Auflösung zum 31. Oktober 1990 und empfahl den Mitgliedern, sich individuell dem DBwV anzuschließen. Von den 46.000 Mitgliedern des VBS traten 12.000 in den folgenden Wochen dem DBwV bei – die Mehrheit nunmehr Ehemalige. Sie bildeten die Grundlage für den im April 1991 in Magdeburg gegründeten Landesverband Ost des DBwV. Die Einheit war damit schließlich auch auf Verbandsebene vollzogen.

Aus zwei Armeen wird die Armee der Einheit: Ein ehemaliger NVA-Soldat erhält seine neue Bundeswehr-Uniform. Foto: LEMO