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queer Thomas Schmidt | PorTraits

Schwul, lesbisch, bi, inter*, trans*, ace, pan, nichtbinär – queer.

queer

Niemals zuvor stand uns eine solche Vielfalt an benennbaren Entwürfen sexueller und geschlechtlicher Identitäten zur Verfügung wie heutzutage. Doch während die sexuelle Ausdifferenzierung zusehends fortschreitet, biologistische, psychologische, soziologisch-kulturwissenschaftliche Erklärungsansätze um eine kausale Deutungshoheit ringen, eint die vermeintlich neu entdeckte Vielfalt vor allem eines: Sie enthüllt, dass die „Normalität“ ihren Allgemeingültigkeitsanspruch verliert: Cisgeschlechtlich-heterosexuell, das sind etwa 90 Prozent der Gesellschaft, die übrigen 10 Prozent sind queer, Tendenz steigend. Damit geraten alte Gewissheiten ins Wanken. Die essentialisierte Brücke vom sexuierten Körper zur Geschlechtsidentität einer Person verliert ihren Anstrich der Natürlichkeit, am Horizont des Heute reift ein neues Repertoire an zwischenmenschlichen Beziehungen, an romantischen und sexuellen Allianzen heran, das sich im Novum der „Ehe für alle“ nicht erschöpfen wird.

Rechtskonservative und antifeministische Kreise wollen uns glauben machen, dass die Vielfalt der Geschlechter und Sexualitäten ein modernes Phänomen, ein Symptom einer übersättigten, dekadenten Gesellschaft sei. Dabei ist es dieser Vorwurf selbst, der sich seit Jahrtausenden durch die Gesellschaft zieht.

Menschen, die die gängigen Sex- und Geschlechternormen infrage stellen, leben seit jeher gefährlich. Ihnen drohen körperliche und psychische Gewalt, soziale Ächtung und der Verlust der Familie. Diese Gefahr beruht auch darauf, dass queeren Menschen stets das Neue, das Fremde anhaftet. Dabei ist es die vorherrschende christlich-patriarchale Ordnung, die genau diese Neuartigkeit stets aufrechterhält, indem sie queere Wissensbestände in die Prekarität verbannt, queere Liebe nicht besingt, queere Küsse nicht filmt, queerer Wissenschaft die Episteme entzieht und queere Bibliotheken niederbrennt.

Der Fotograf Thomas Schmidt hat sich in Portraits und Interviews queeren Menschen genähert, in deren Biografien Herne eine wichtige Rolle spielt: Als Lebensmittelpunkt, als Ort der Arbeit, des Liebens, des Alltags und: des Coming-Outs. Diese Bilder sind mehr als nur Abbildungen, in ihnen finden sich Mut, Zärtlichkeit, Stolz und Bekenntnisse zu sich selbst, die alte Wahrheit: „Wir waren schon immer mitten unter Euch.“

Wir dürfen nicht vergessen, dass auch heute immer noch Menschen durch diese Bekenntnisse zu Zielscheiben werden können, dass die Verantwortung, eine Welt jenseits von Angst und Bevormundung zu schaffen, ausnahmslos bei uns allen liegt.

Laron Janus

TONI

CHARLIE UND TONI

Toni: "Ich bin in Wanne-Eickel geboren, ich komme klar. Ich kenne meine Leute und erkenne von weitem auch die Arschlöcher! Das hat dann seinen Vorteil in einer kleinen, fast familiären Community zu leben. Ich wünsche mir aber grundsätzlich mehr Verständnis und Akzeptanz für queere Menschen. Mehr Ressourcen für marginalisierte Gruppen insgesamt!"

BRIGITTE

"Im Februar 1988 habe ich meinen ersten Informatik-Kurs in der Volkshochschule Wanne-Eickel gegeben. Ich bin Fan von Wanne. In den 80ern fand ich Herne im Vergleich zu meiner Geburtstadt Gelsenkirchen immer fortschrittlicher, grüner und auch umweltbewusster. In der VHS gab es schon sehr früh verschiedene innovative Kurse. Meine Namensänderung wurde 2001 in den Unterlagen der VHS eingetragen. Meinem Kurs sagte ich, dass ich aufhören würde und dass eine junge Dame übernehmen würde. Der Kurs war empört und drohte an, die "neue Kollegin" herauszuekeln. Nachdem ich das Rätsel aufgelöst hatte, habe ich Standing Ovations und einen riesigen Strauß Rosen erhalten. Seit 2001 gab es dann die Brigitte Schramm, vorher die Gisbert. Ich muss allerdings sagen, die "Gitti" gab es schon von klein auf. Mit 17 oder 18 versuchte ich mich bei Spaziergängen mit Frauenkleidern und -schuhen, um für den Ernstfall gewappnet zu sein. Womit andere sich also jetzt auseinandersetzen, das hatte ich schon 20 Jahre vorher. 2001 bin ich dann mit der Selbsthilfegruppe für transsexuelle Menschen eingestiegen. Das war absolutes Neuland und auch schwierig. Damals war das Grundgesetz noch nicht überarbeitet. Wir haben dafür gekämpft, dass das Grundgesetz und der Personenstand geändert wird. Dazu brauchte es aber auch Klagen beim Bundesverfassungsgericht. Wirklich wichtig war mir das "f" für female im Reisepass. Das "m" für masculine kam natürlich nicht mehr in Frage und mit dem "d" für diverse wollte ich auch keine Auslandsreisen antreten und bin somit nur mit dem Personalausweis unterwegs gewesen. Jetzt habe ich auch das "f" im Reisepass!"

ROSA

"Ich bin von Essen-Rüttenscheid hierher gezogen. Das war so ein Kulturschock. Ich kann hier nicht queer sein, nicht als erwachsener Mensch. Für die Jugendlichen läuft langsam etwas an. Aber es gibt hier keinen Ort, wo ich mich in Ruhe mit lesbischen oder bisexuellen Frauen zusammensetzen kann, Kunst machen kann, tanzen oder quatschen kann. Dafür muss ich nach Bochum fahren!"

MANDY

"Ich bin jetzt fast seit zehn Jahren in Herne. Ursprünglich komme ich aus einem kleinen Dörfchen bei Trier. Die Situation hier im Ruhrgebiet ist natürlich nicht zu vergleichen mit meinem Geburtsort. Trotz der vielen Kulturen in meinem Bezirk komme ich als transsexuelle Person überraschend gut klar. Ich wünsche mir noch Räume für Begegnungen, damit Personen wie ich, sich austauschen und beraten können!"

CHRISTIAN UND MOHAMMAD

Christian: "Als Theaterunternehmer bin ich schon privilegiert. In unserer Branche ist es längst selbstverständlich, die sexuelle Orientierung eines Menschen zu akzeptieren. Gleichzeitig weiß ich natürlich, dass viele Bürgerinnen und Bürger mit einem Umfeld zurechtkommen müssen, das es ihnen schwer macht, offen zu leben und ihren Weg zu finden. Ich wünsche mir sehr, dass diese Denkweise möglichst bald der Vergangenheit angehört. Die Akzeptanz der sexuellen Orientierung ist kein Problem einer einzelnen Stadt , sondern eine Aufgabe, an der sich unsere gesamte Gesellschaft messen lassen muss. Aus eigener Erfahrung weiss ich, dass Städte wie Berlin, Hamburg oder Köln deutlich offener denken und handeln. Mohammad und ich fühlen uns in Herne willkommen. Auch diese Ausstellung zeigt, dass sich Herne auf einem guten Weg befindet - dank der engagierten Menschen und ihrer wichtigen Arbeit vor Ort"
Mohammad: "Es gibt hinsichtlich der Akzeptanz von Homosexualität in Deutschland, im Vergleich zu meinem Heimatland Syrien extreme Unterschiede. Selbst bei meinem Zwischaufenthalt als Flüchtling in Griechenland, dort ist die Akzeptanz von queeren Menschen - vielleicht bis auf die Metropolen Athen und Thessaloniki - überhaupt nicht vergleichbar mit den Möglichkeiten in Deutschland. Vieles hängt meiner Meinung nach dort auch mit der jeweiligen Religion, den familiären Strukturen und fehlender Aufklärung zusammen."

Bernd und Daniel

Bernd und Daniel: "Wir leben und fühlen uns als ganz normales Ehepaar, wie andere Paare auch. In Herne wird für die queere Community allerdings viel zu wenig geboten. In anderen Städten wie Bochum oder Köln sieht es da ganz anders aus. In Herne gibt es weder Treffpunkte, Cafés, Bistros, Clubs bis hin zu der Tatsache, dass man auch zu Seminaren und Fortbildungen für Homosexuelle erstmal nach Bochum muss, hier gibt es keine Angbote. Ein Lichtblick für die queere Community ist der Cristopher Street Day, der in diesem Jahr hoffentlich stattfindet!"

LARON

"Ich arbeite seit 2019 in Herne in der queeren Jugendarbeit. Meine Arbeitssituation ist insofern eine besondere, da ich einerseits die Expertise als studierter Sozialwissenschaftler sowie eine langjährige Erfahrung in der queeren Bildung mitbringe, andererseits aber selbst als queerer Mann zur Community gehöre und auch persönliches Interesse an meiner Arbeit habe. Das führt in Herne leider bisweilen zu der bizarren Situation, dass unsere zivilgesellschaftlichen Bestrebungen leider nicht die gewünschte Akzeptanz finden, da sie oft auf mich als betroffene Person bezogen, gelesen werden. Wobei ich an anderer Stelle dennoch als Experte für Vorträge und Beratung konsultiert werde. An dieser Stelle wünsche ich mir mehr Gespräche auf Augenhöhe. Von kommunaler Seite wünsche ich mir mehr Mut und Offenheit, sich auch einmal auf den Fuß treten zu lassen. Eine moderne Stadtentwicklung braucht auch Experimente des neuen Zusammenlebens und der Akzeptanz. Meine Hoffnung für die queere Community ist unter anderem die Idee des Metropol-Kiez in Wanne-Eickel. Hier sollten neue Räume geschaffen werden. Das scheint mir der richtige Ansatz zu sein, die Stadt zukunftsfähiger zu machen."

PAUL

"Ich mache gerade meine Ausbildung im Pflegebereich, ich lebe gerne in Herne, aber: Wir haben viel zu wenig Möglichkeiten wegzugehen und uns auszutauschen, keine Cafés, keine Clubs, also fehlende Kommunikation. Das ist sehr schade und da sollte dringend etwas geschehen. Außerdem braucht es in der Stadt noch weitere Anlaufstationen für Jugendberatung und Austausch. Das halte ich definitiv für sehr wichtig!"

ARNE

"Ich fühle mich nicht wirklich unsicher hier in der Stadt, obwohl ich auch schon aufgrund meiner bunten Kleidung als "Scheiß-Schwuchtel" angepöbelt wurde. Das habe ich überhaupt nicht verstanden, zumal ich alleine unterwegs war. Auf jeden Fall wäre mal eine Anlaufstelle für junge Leute gut. Das queere Jugendforum macht da ja schon etwas. Ich finde, dass müsste wesentlich sichtbarer sein in der Stadt. Hier gibt es im Freizeitbereich auch keine Angebote für queere Menschen. Es kann ja auch nicht angehen, jedesmal in die U35 steigen zu müssen, um mal in Bochum zu feiern, Leute zu treffen, oder Veranstaltungen zu besuchen. Schön wäre was Ähnliches wie das "Druckluft" in Oberhausen, mit Veranstaltungen, Konzerten, Jugendarbeit etc. Das sollte auch hier möglich sein. Von der Stadt wünsche ich mir mehr Sichtbarkeit zu dem Thema, dann würde man sich als Mitbürger*in auch wahrgenommen und mehr mitgenommen fühlen."

ROGER

Roger: "Für mich ist es manchmal schwierig hier in Herne zu wohnen. Ich gehe durch die Straßen, in den Bahnhof rein, und werde oft angeschaut. Das geht auch oft einher mit entsprechenden Bemerkungen. In der letzten Zeit gehe ich dazu über, zurückzufragen. Was ist nicht in Ordnung ? Was mache ich falsch? Warum kann man mich nicht als ganz normalen Mensch betrachten? Diese Kommentare nerven so sehr. Diese Anfeindungen kommen auch von ganz unterschiedlichen Personen. Ich arbeite als Kunsthistoriker und Kurator in Düsseldorf. Dort werde ich akzeptiert, in meinem Arbeitsumfeld werde ich als völlig normale Person betrachtet. Das sind dann schon die Unterschiede. Für Herne wünsche ich mir einen offenen Treffpunkt, einen interessanten Kunstort, an dem Kunst gemacht und gezeigt wird. Einen Ort, wo die verschiedenen, interessierten Menschen einen Treffpunkt haben und nicht kommentiert werden!"

MICHELLE

Michelle: "Als ich hier in Wanne aufgewachsen bin, waren queere Menschen für mich überhaupt nicht sichtbar. In der Unterstufe habe ich die vielen Vorurteile gegenüber queeren Personen bemerkt. Ich denke aber, dass die Menschen in meiner Generation immer toleranter werden. Das heißt aber nicht, dass dieses Gefühl, so sein zu können wie man ist, auch toleriert wird. Ich fahre sowohl in der Woche als auch am Wochenende nach Bochum, um etwas zu unternehmen, hier finde ich einfach nichts, was meinen Interessen entspricht. Ich bin keine Person, die sich mit anderen dann einfach am Buschmannshof zum Abhängen trifft. Ich sehe hier in Wanne keine sichtbare queere Community. Ich mache jetzt noch ein Freiwilliges Soziales Jahr und dann möchte ich in Berlin studieren, da sind schon ein paar Freunde von mir. Falls das nicht klappt , dann zur Uni nach Bochum, Essen oder Dortmund! Die Mentalität der Menschen sollte sich hier ändern, damit die Menschen, die nicht der Norm entsprechen, auch ein gutes Lebensgefühl erfahren."

DANK:

  • Elena Franz von der Partnerschaft für Demokratie Herne für die spontane Projektunterstützung.
  • Laron Janus für seine großartige Expertise, seinen erhellenden Textbeitrag und Engagement für das Gelingen des Projekts.
  • Brigitte Schramm für ihre Kontakte und interessanten Informationen zum Thema.
  • Karola Mono für ihren Kontakt zur Selbsthilfegruppe.
  • das queere Jugendforum Herne für die spontane Bereitschaft zur Projektteilnahme.
  • Yannis Kontantinos für fotografische Inspiration und Tipps zum Verhalten in der Community.
  • Anja Gladisch für das Redigieren dieser Online-Version.

Ein ganz besonderer Dank an alle Portraitierten, die sich spontan zu den Shootings bereit erklärten und den Mut aufbrachten, sich auch für sehr raumgreifende Fotografien bereitzustellen. Das Zusammentreffen mit euch war immer spannend, inspirierend, informativ und hat meinen Horizont erweitert! Danke!