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Haiti: ein Halbes Jahr nach dem Erdbeben Fotos: Berthony Raymond

Auch sechs Monate nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti versetzen regelmäßige Nachbeben die Bevölkerung im Umkreis des Departements Nippes in Unruhe und Angst. Viele Menschen schlafen noch im Freien, aus Furcht, dass ihnen das Dach über dem Kopf zusammenbrechen könnte. Am 24.,25. und 26. Januar 2022 musste das Ärzte der Welt-Team wegen akuter Einsturzgefahr alle Patient*innen aus den neun unterstützten Gesundheitseinrichtungen evakuieren. Angesicht dieser bedrohlichen Lage ist es nicht verwunderlich, dass das zweiköpfige Psycholog*innen-Team von Ärzte der Welt nicht ausreicht, um den Bedarf an psychologischer Unterstützung zu decken.

Bei der Katastrophe, die am 14. August 2021 über Haiti hereinbrach, verloren über 2.000 Menschen ihr Leben, 12.000 wurden verletzt und fast 60.000 Gebäude wurden zerstört. Dazu kamen rund 76.000 Schäden an der Infrastruktur. Kurz nach dem Beben zog dann auch noch der Wirbelsturm Grace über die Insel und verschlimmerte die Situation zusätzlich.

In der Nacht brach mein Haus zusammen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Als ich zu Hause ankam, fand ich meine Frau dort schreiend und mit einer Wunde an ihrem Arm. Das Gesundheitszentrum, das wir aufsuchten, war völlig überlaufen. Ich hatte noch nie so viele Menschen in einem Krankenhaus gesehen. Viele Patient*innen wurden draußen behandelt, weil das Gebäude bei dem Erdbeben Risse bekommen hatte. Wir hatten Angst, dass uns das Dach auf den Kopf fallen würde. Es gab nicht genug Personal, um meiner Frau zu helfen, und wir mussten mehrere Stunden warten. Meine Familie und ich schlafen heute draußen in einer Notunterkunft, weil ein Teil unseres Hauses zusammengebrochen ist und es jederzeit komplett einstürzen könnte. Noch heute spüren wir täglich, wie die Erde bebt.

Moïse Joseph Herald, Einwohner der Gemeinde Petit-Trou-de-Nippes

Ich bin vier Stunden durch die Berge gelaufen, um die am meisten abgeschotteten Gemeinden des Departements Nippes zu erreichen. Kein einziges Haus war stehen geblieben, die Menschen schliefen unter Bäumen. Eigentlich hatte das neue Schuljahr beginnen sollen, nun aber fiel der Unterricht aus. Fünf der neun von Ärzte der Welt unterstützten Krankenhäuser waren stark beschädigt. Unter dem Gewicht von Schutt und Beton war die Entbindungsstation eines Hospitals in den Boden gesunken. Während des Erdbebens lagen gerade drei Schwangere in den Wehen. Eine Frau und ihr Baby sowie mehrere Mitarbeitende starben. Zwei schwangeren Frauen gelang es, durch eine kleine Öffnung aus den Trümmern ins Freie zu kriechen und draußen unter den Palmen ihre Kinder zur Welt zu bringen.

Nicolas Demers-Labrousse, Koordinator von Ärzte der Welt Kanada in Haiti, über die Tage nach dem Erdbeben.

Schon vor dem Erdbeben war die humanitäre Lage in Haiti angespannt. Das Gesundheitssystem wurde zuletzt durch die Covid-19-Pandemie zusätzlich belastet. Seit den zwei aufeinanderfolgenden Naturkatastrophen befindet es sich in einer Art permanenten Notsituation. Nach UN-Angaben ist fast die Hälfte der Bevölkerung auf Nothilfe angewiesen. Fast ein Viertel der Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu essenziellen Gesundheitsleistungen. Das sind 26 Prozent mehr als 2020.

Neben der zerstörten Infrastruktur erschweren Straßensperren durch bewaffnete Gruppierungen, politische Instabilität, zunehmende Gewalt und der Treibstoffmangel es den Menschen, medizinische Einrichtungen aufzusuchen.

Was wir erreichen konnten

Um schnell und effektiv auf das Erdbeben reagieren zu können, war es ein großer Vorteil, dass Ärzte der Welt schon seit 1996 in Haiti aktiv war. Dank der Unterstützung unserer großzügigen Spender*innen und zahlreichen Partner konnten wir:

  • Die Kapazitäten der Gesundheitseinrichtungen im Departement Nippes stärken
  • Die Ernährungs- und Hygienesituation von Familien in Nippes verbessern
  • Menschen mit durch das Erdbeben verursachten Verletzungen oder anderen gesundheitlichen Problemen in abgelegenen Gemeinden an Gesundheitseinrichtungen überweisen und mit Informationen versorgen.
  • Die psychologische Not der betroffenen Bevölkerung lindern.
  • Gesundheitseinrichtungen wieder instand setzen

Unsere Hilfe in Zahlen

  • Über 20.300 Personen erreicht
  • Für mehr als 373.000 Menschen den Zugang zu Gesundheitsversorgung verbessert

Hilfsgüter

  • Rund 1.600 Hygiene- und Nahrungsmittelpakete an betroffene Familien verteilt
  • Fast 6.500 Medikamente und Hilfsgüter an Gesundheitseinrichtungen abgegeben

Unterstützung für medizinische Einrichtungen

  • Die medizinischen Teams in Nippes mit 23 Krankenpfleger*innen, zwei Allgemeinmediziner*innen und vier orthopädischen Notärzt*innen verstärkt
  • Medizinischen Einrichtungen über 600 Gegenständen wie Stühle, Schreibtische, Aktenschränke, Handwaschstationen, Sterilisationsgeräte, Blutzuckermessgeräten und medizinische Bildschirme zur Verfügung gestellt
Ich hatte alles verloren, denn das Erdbeben hatte mein Zuhause zerstört. Ärzte der Welt besuchte unser Dorf und kam später mit Notfallkits wieder. Es mag trivial erscheinen, aber dank des Segeltuchs, dass sie zur Verfügung stellten, hatte meine Familie in den kommenden Monaten ein Dach über dem Kopf. Die Seife, Zahnpasta und anderen Hygieneprodukte gaben mir etwas Würde zurück.

Ginette Cassy, Mutter und Großmutter aus dem Dorf Mango Danse im Departement Nippes

Psychologische und aufsuchende Hilfe

Wir haben:

  • Zwei Psycholog*innen eingesetzt, die Menschen mit Traumata und andere seelische Leiden in über 100 Einzel- und Gruppensitzungen behandelt haben. 365 Patient*innen wurden längerfristig betreut.
  • Ein mobiles Team aus über 30 Gesundheitshelfer*innen in abgelegene Gebiete entsandt, um Menschen zu erreichen, die nicht in Krankenhaus fahren können
  • Rund 3.600 Informationsveranstaltungen zu Hygiene und Ernährung in Privathäusern oder lokalen Versammlungsorten mit mobilen Einheiten durchgeführt

Wiederaufbau

  • Zwei temporäre Gesundheitseinrichtungen aufgebaut, um die am stärksten beschädigten Gesundheitseinrichtungen zu ersetzen, das medizinisch Personal unterzubringen und die Kontinuität der Versorgung zu gewährleisten
  • Renovierungen in Gesundheitszentren durchgeführt

Alle Maßnahmen haben wir eng mit den örtlichen Behörden abgestimmt, um sicher zu gehen, dass sie im Einklang mit der Gesamtstrategie für den Wiederaufbaus stehen.

„Unser Krankenhaus war völlig zerstört, aber Ärzte der Welt hat schnell behelfsmäßige Gebäude und einen Schlafsaal errichtet. Diese Unterstützung machte es schwangeren Frauen möglich, ihre Kinder an einem sicheren Ort zur Welt zu bringen, anstatt im Hof des Krankenhauses.

Eluderne Denius, verantwortliche Krankenschwester im Aisle Hospital in Nippes

Fotos: Berthony Raymond