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Mit freundlichen Grüßen, 2022

Es begann wie immer. Am 1. Januar, 0:00 Uhr. Ungewöhnlich war nur die Location - umgeben von Natur und finsterster Nacht am eiskalten Wasser meines Sees. Es gibt kaum feinere Plätze, ein neues Jahr zu empfangen. Die Gesellschaft war ebenfalls fein, doch klein: Nils und Anna stapften mit mir durch düstre Wälder über winzige Pfade und angefrorene Sümpfe zu der kleinen, felsigen Halbinsel, um dort am Lagerfeuer mit Glühwein auf die Zukunft anzustoßen.

Doch an eben jener Stelle sollte dieses Jahr noch viel Größeres geschehen...

Der letzte Winter war eisig.

Nicht nur wettermäßig.

Schon am 25. Januar, einen Monat vor dem Einmarsch in die Ukraine, staunten wir nicht schlecht beim gemeinsamen Filmen mit Michel, einem Praktikant bei Angered Media, dass die Göteborger Schären massiv vom Militär auf der Suche nach feindlichen U-Booten patrouilliert wurden. In den folgenden Monaten bereitete Schweden sich ernsthaft auf die Verteidigung eines bevorstehenden, militärischen Angriffs vor. Das war seltsam und etwas unheimlich. Früher hatte man immer nur Oma und Opa vom Krieg reden hören. Später hörten wir den Geschichten von Menschen zu, die aus furchtbaren Situationen in anderen Teilen der Erde geflohen waren. Plötzlich selbst in einem Land zu leben, wo Krieg zur realen Bedrohung wird, löste unerwartete Gefühle aus. Eine lehrreiche Lektion, gewiss. Immerhin wissen wir seither, welcher Gruppe der schwedischen Bürgerverteidigung wir angehören, was unsere gesetzlichen Pflichten im Kriegsfall sind und wo der nächste Luftschutzbunker zu finden wäre. Gott sei Dank, der Angriff blieb aus. Doch tiefe Spuren bleiben: Seither ist Schweden nicht mehr neutral. Für das Land wäre es der erste Krieg seit über hundert Jahren gewesen.

Stromausfälle

... werden ja gerade immer wieder vorausgesagt. An die konnten wir uns bereits im letzten Winter stundenlang gewöhnen. Also, nicht nur die der üblichen Art, wenn der Strom halt mal für eine Stunde oder länger abgeschaltet wird. Bei uns hatte nämlich irgendein lebensmüder Nager einen Riesenappetit auf unseren persönlichen, unterirdischen Hauptanschluss zum Stromnetz und knabberte munter drauf los. Bis es dunkel wurde. Sowohl für ihn, als auch im ganzen Haus. Die Stromversorgung musste erstmal umständlich und provisorisch über die Straße gelegt werden. Darauf wurde sie dann zuverlässig und erfolgreich von jedem Schneepflug mit knallendem Feuerwerk wieder durchtrennt. Aber wie will man als Schneepflugpilot auch ahnen, dass da ein Kabel auf der Straße liegen könnte.

Kabel heißt auf schwedisch übrigens "kabel". Nur so nebenbei.

Doch das Beste kam erst danach: Die professionelle Totalzerstörung unserer Umlage. Grund: Wir hatten zwar keinen Schatz, aber einen See unterm Haus entdeckt. Weil die Drainage ums Haus, eigentlich für die Entwässerung verantwortlich, einen Viertelmeter zu hoch verlegt worden war. Was das Wasser als Einladung verstand, es sich unter der Grundplatte so richtig gemütlich zu machen. Das wiederum kann ganze Ökosysteme auf Kellerwänden entstehen lassen, was wir im Gegenzug aber nicht mehr so gemütlich fanden. Also rückte schweres Gerät an.

Wo früher Feste (und Gottesdienste!) gefeiert wurden, hob man nun Gräben aus. Wälle statt Wiese. Wo einst fruchtbarer Mutterboden lag, nun Ton, Sand und Steine.

Seither wird Gemüse vorerst in der Küche angebaut.

Um mal raus aus dem Matsch zu kommen, feierten wir Karens Geburtstag mit ABBA in...

... der Hauptstadt:

Musik

... ist schließlich ein wunderbares Werkzeug zur Lebensbewältigung. Generell hat Kunst etwas therapeutisches - wohl deshalb auch hat Gott weit am Anfang der biblischen Geschichte, als Israel noch trostlos in der Wüste irrte, bewusst Künstler begabt, berufen und etabliert. Wir haben dieses Jahr zu mehreren Kurzkonzerten in einer Minikapelle mitten in Göteborg eingeladen, wo Musiker nicht nur spielen, sondern auch ein paar Geschichten hinter den Liedern erzählen. Nicht selten sind es sehr bewegende Geschichten, und die wenigen Gäste, die in der winzigen Kapelle Platz finden, gehen be- und gerührt heim. Für uns ist das ein wunderbarer Versuch, Salz und Licht in einer Welt zu sein, die sich nach Authentizität und Echtheit sehnt.

Peter Hallström beim Soundcheck.

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Nur ein kleiner Teil unserer Familie lebt noch in der EU. Die Selbstverständlichkeit, mit der man früher den Alltag verbrachte, ist vorbei. Vermutlich für immer. Jede Stunde, jeder Moment, wo man sich heute im echten Leben trifft, wird zum kostbaren Goldklumpen. Deshalb war dieser Sommer eine große, wertvolle Schatztruhe, weil wir für eine ganze Woche wirklich alle zusammen sein konnten.

Da wird herumgealbert...

... oder Spiele gespielt,

wie hier ein Murder Mystery à la 1930.

Nils und Anna legten noch gewaltig einen obendrauf: Sie haben uns überrascht und sich in genau dieser Woche verlobt. (Heimlich an meinem See!!!) Herzlichen Glückwunsch. Die Hochzeit steht also nächstes Jahr ins Haus.

Es geschah an derselben Stelle wie Silvester...

Noch so'n Highlight war Oles und Athenes Geburtstagsgeschenk an mich: Ein Ticket in die Feuerzone bei...

Rammstein!

Live in Göteborg. Und das in der ersten Reihe, wo die Flammenwerfer spucken und man den rammenden Steinen tief in die Musikeraugen sieht.

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2022 war aber auch ein Jahr, das viele zweifeln ließ - an alten Überzeugungen, vermeintlichen Sicherheiten, am Menschen, am Glauben, an Gott. Wir suchen bewusst das Gespräch mit Zweiflern, wenn möglich, gerne öffentlich - wie auf den Minikonzerten in der Minikapelle, in Podcasts, oder auf unseren Events, wo auf eine kleine Kunstausstellung und einer musikalischen Darbietung eine Podiumsdiskussion folgt. Auf diese Weise lassen wir ehrliche Fragen und echte Gefühle zu, kleiden sie in Worte, so dass unsere Hörer und Zuschauer sich damit identifizieren können. Das schafft Offenheit und Ehrlichkeit. Auf die Dauer zieht es Kreise, die selbst im Land des Zweifels immer größer werden.

Glaube und Zweifel im Gespräch:

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In diesem Herbst war es übrigens vier Jahre her, dass wir unser Auto abgestoßen haben. Oh! Das war eine der besten Entscheidungen unseres Lebens! Benzinpreis, TÜV und Reparaturen - kein Stress mehr mit allem, womit Autos stressen können! 2022 war nun eine kleine Investition angesagt: E-Bikes. Also, coole E-Bikes. Es wurden zwei S3 von VanMoof (danke für den Tipp, Johannes!). Selten sind Karen und ich so viel geradelt. Sobald es das Wetter zulässt und wir Zeit haben, gleiten wir durch die Gegend, lernen die Stadt noch besser kennen, entdecken unbekannte Wege und Cafés oder holen, wie auf dem Foto, am Bauernhof unseren wöchentlichen Anteil an der Ernte ab, in die wir uns als Teilhaber eingekauft haben. Zu schreibender Stunde müssen sich unsere S3s aber gedulden: Bei verschneiten und vereisten -15° warten wir lieber auf sichereres Wetter. Doch Vorfreude ist ja die schönste Freude.

Zwiebeln, Knoblauch und Pak Choi. Und so viel mehr. Frisch geerntet. Woche für Woche:

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Und dann war da noch eine Hochzeit. Unser Neffe Max hat seine Anna geheiratet. Das ist immer Grund zum Jubel - wir Fritschs haben aber noch ein bisschen extra gejubelt, weil wir uns dieses Jahr alle ein zweites Mal treffen konnten! Voll der Luxus also!

Ein gelungenes Foto von Anne Gülich:

Ansonsten hatten Svea (Chefin) und ich (Assistent) die anspruchs- und ehrenvolle Aufgabe der Hochzeitsfotografie. Deshalb trage ich auf dem Gruppenfoto oben auch (noch) keinen Anzug.

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Der Dom steht also noch.

Seit Covid-2019 sind wir nicht mehr in der alten Heimat gewesen. Endlich konnten wir das nachholen. Mit Fähre und Zug reisten wir über Kiel und Köln nach Gummersbach. Kurz vor der Reise wurde aber bei meiner Schwester Michaela völlig überraschend ein schnell wachsender Hirntumor diagnostiziert. Unser Besuch fiel daher genau in die Woche des ungewissen Wartens vor einer wirklich großen und nicht risikofreien Operation, die Zeit wurde für uns alle doppelt wichtig. Mittlerweile ist die OP gut überstanden, und Michaela erholt sich ganz langsam aber sicher von den starken motorischen Beschränkungen durch den Eingriff. Sie ist eine echte Kämpferin und ein Vorbild in Sachen Hoffnung und Zukunftsvision, von der wir alle lernen können.

Besuch im Oberbergischen

Heimreise: Karen in Kiel...

... auf der Stena Germanica.

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Immer wieder höre ich: "Ich kann nicht glauben." Oder "ich glaube an nichts." Dabei geht das gar nicht! Jeder Mensch glaubt irgendwas. Glaube ist nichts religiöses, Glaube ist Teil des Unterbewusstseins, des Alltags. Glaube steuert unser Welt- und Menschenbild, unsere politischen Überzeugungen, unsere Einkäufe, Werte und Ziele. Schürft man noch ein wenig tiefer, so entdeckt man - Religion hin oder her -, dass sehr viel davon in einer Art Gottesbild wurzelt.

Die Weihnachtszeit bietet mir alljährlich Gelegenheit, mein eigenes, verstecktes Gottesbild zu überdenken: ich will an einen Gott glauben, der es gut meint, sich zu nichts zu schade ist und mir ein Vorbild als demütiger Diener bleibt. Ein Meister der Geduld und Nachsicht, der dennoch zielstrebig eine neue Welt erarbeitet. Ich möchte von lebendiger Hoffnung angesteckt bleiben und mitmachen. Manchmal zieht diese Hoffnung aber etwas schneller weiter als ich, und ich muss sie neu finden, meist an den merkwürdigsten Stellen. Wer hätte schon erwartet, Gott ausgerechnet in einem Futtertrog zu finden! Wer hätte gedacht, dass die Letzten die Ersten werden könnten. Wie kann man ahnen, dass ein einfaches Glas Wasser, in Liebe ausgeschenkt, wertvoller sein kann als alle Geldmengen der Erde. Wie kann man sich vorstellen, dass der Mensch als Menschheit in all ihrer Vielfalt Gottes Ebenbild sein soll(te) und aus Trilliarden kleiner, warmherziger Tropfen ein Meer der Liebe werden kann - hier, auf dieser Erde.

Wer hätte geglaubt, dass diese Botschaft an die Hirten erst der Anfang einer Geschichte war, in der wir heute noch eine Rolle spielen.

Wir wünschen Euch allen ein wunderbares Weihnachtsfest und einen guten Start im neuen Jahr!

Marcus und Karen

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Gold und Weihrauch hab ich nicht, doch ich habe Möhre.
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