Porträt
Marie-Christine Eisenring, Sie sind seit 13 Jahren für Swissnoso tätig. Wie haben sich Ihre Aufgaben im Verlauf der Zeit verändert?
Das Swissnoso Programm zur Überwachung postoperativer Wundinfektionen (auf Englisch: SSI Surveillance) entwickelte sich laufend weiter – und damit auch meine Aufgaben als Projektleiterin. Zu Beginn galt es, das im Wallis entwickelte multizentrische Programm für Institutionen in der Westschweiz und im Tessin auf die gesamte Schweiz zu übertragen, die Überwachungsmethode zu standardisieren und die Instrumente zu konzipieren. Im Verlauf der Zeit dehnten wir die SSI-Überwachung auf weitere chirurgische Eingriffe aus, verfeinerten die Methode und implementierten die Validierungsaudits. Auch die Berichterstattung veränderte sich: In einem ersten Schritt entwickelten wir individuelle Berichte für die Spitäler und Kliniken, in einem zweiten Schritt folgte auf Anfrage und in Zusammenarbeit mit dem ANQ die transparente Veröffentlichung der Ergebnisse. Seit mehreren Jahren sind wir im Auftrag des ANQ auch für die Erstellung des nationalen Berichts zuständig. Die letzte grössere Veränderung gab es im Sommer im Zuge meiner Frühpensionierung. Ich arbeite seither in einem 20-Prozent-Pensum, um meine Nachfolgerin Christelle Perdrieu in der Anfangszeit zu unterstützen und ihr alle Informationen in diesem komplexen Dossier weiterzugeben.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit speziell gut?
Je nach Schweregrad können die Wundinfektionen für die Patientinnen und Patienten sehr belastend sein. Sie haben grosse Auswirkungen auf das Gesundheitswesen, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ein Teil dieser Infektionen kann durch gezielte Präventionsmassnahmen verhindert werden. Mehr als die Hälfte der Infektionen führen zu einer neuen Operation und ein Drittel zu einer Rehospitalisierung. Es bedeutet mir viel, einen Beitrag zur Prävention und zur Versorgungsqualität zu leisten. Ich schätze es sehr, Teil des wissenschaftlichen Umfelds von Swissnoso zu sein, an Publikationen mitzuwirken, Zahlen zu analysieren und die Ergebnisse zu kommunizieren. Auch die Zusammenarbeit mit Partnern wie SwissRDL, mit den Spitälern und Kliniken und mit Profis aus unterschiedlichen Bereichen finde ich motivierend. Besonders wichtig sind mir die persönlichen Kontakte mit den SSI-Surveillance-Verantwortlichen in den Institutionen. Im Laufe der Jahre haben sich professionelle und freundschaftliche Beziehungen daraus ergeben.
Welche Aufgaben hat Swissnoso im Rahmen der ANQ-Messung der Wundinfektionen?
Swissnoso ist der wissenschaftliche Garant für die Überwachungsmethode, die Datenanalyse und die Berichterstattung der Ergebnisse an die Spitäler und Kliniken. Swissnoso erstellt die nationalen Vergleichsberichte sowie die klinikspezifischen Berichte. Wir sind auch für das Validierungskonzept und dessen Umsetzung in der Praxis zuständig und führen Schulungen durch. Die Projektleitung ist für die operative Umsetzung des Programms SSI Surveillance verantwortlich. Wir stehen in Kontakt mit rund 500 Personen, die in über 160 Institutionen für die Überwachung der Wundinfektionen zuständig sind. Mit dem ANQ arbeiten wir sehr eng zusammen, ebenso mit SwissRDL, unserem Partner für das Datenhosting und die Auswertung der Daten gemäss Vorgabe von Swissnoso. In Zusammenarbeit mit dem ANQ entwickeln wir die Wundinfektionsmessung laufend weiter. Dank der Aufnahme in den ANQ-Messplan ist die SSI-Überwachung für alle Spitäler und Kliniken mit entsprechendem chirurgischen Angebot Pflicht.
Sie sind auch für die Kurse zum Modul SSI Surveillance zuständig. Weshalb sind diese so wichtig?
Ich habe grossen Respekt vor der Leistung der Fachleute, die in den Spitälern und Kliniken für die Überwachung der Wundinfektionen zuständig sind. Ohne sie hätten wir keine Daten und keine Auswertungen, die wir analysieren und vergleichen könnten, und somit auch keine Basis für Verbesserungen. Die obligatorischen Schulungen haben zum Ziel, sie auf die Problematik zu sensibilisieren und sie in einer einheitlichen Überwachungsmethode auszubilden. Ein standardisiertes Verfahren und die korrekte Umsetzung in der Praxis sind die zentralen Voraussetzungen, um verlässliche Daten zu erhalten. Deshalb muss auch jede neu für die SSI Surveillance zuständige Person die Schulung absolvieren. Um die Verantwortlichen in den Institutionen zu unterstützen, haben wir eine Hotline eingerichtet, auf der sie alle Fragen zur Methode stellen und uns auch für die Beurteilung komplexer klinischer Fälle beiziehen können. Wir beantworten die Fragen gerne innert nützlicher Frist.
Swissnoso führt in den Spitälern und Kliniken auch Validierungsaudits durch. Was wird dabei bewertet?
Die Validierungsbesuche in den Institutionen sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Programms und unterstützen die transparente Ergebnispublikation auf dem ANQ-Webportal. Die Implementation eines Überwachungsprogramms alleine reicht nicht aus, wenn man keinen besonderen Fokus auf die Datenqualität legt. Es ist durchaus plausibel, dass einige Institutionen mehr oder weniger Aufwand betreiben, um Infektionen zu erkennen. Das würde zu systematischen Verzerrungen führen und sich in den erfassten Infektionsraten widerspiegeln. Mit den Validierungsbesuchen können wir eine einheitliche Umsetzung der standardisierten Überwachungsmethode sicherstellen und die Qualität und Zuver-lässigkeit der erhobenen Daten bewerten. Wir auditieren den gesamten Überwachungsprozess, die Ergebnisse der Überwachung (Outcome) und die internen Strukturen. Die Qualität der Überwachung wird anhand von Fragebogen, Mehrfachbeobachtungen, Diskussionen und zufällig ausgewählten Fallbesprechungen (Case Reviews) erhoben und auf einer Skala von 0 bis 50 erfasst (Validierungsscore). Im Team von Swissnoso sind Marylaure Dubouloz und Katja Di Salvo für die Validierungsaudits zuständig, die von der Projektleiterin verantwortet werden. Sie stehen in engem Austausch mit den SSI-Verantwortlichen, die in den Institutionen für die SSI-Überwachung zuständig sind, und können auch vor Ort Coachings durchführen.
Was bringen die Audits?
Aktuell läuft die vierte Validierungsrunde. Der Medianwert der Bewertungen ist seit der ersten Runde signifikant gestiegen. Das ist eine gute Entwicklung. Die Tatsache, dass der Validierungsscore in der transparenten Ergebnispublikation des ANQ erwähnt wird, dürfte die Institutionen zusätzlich zu Verbesserungen anspornen. Aber das Bild ist nach wie vor heterogen: Wir haben einerseits Institutionen mit ausgezeichneten Überwachungsprozessen. Und andererseits gibt es Institutionen, bei denen wir Lücken und eine ungenügende Qualität feststellen. In den Validierungsberichten, die wir den besuchten Einrichtungen zukommen lassen, geben wir praktische Empfehlungen, wie sie die Probleme beheben können. Abgesehen von den Ausreissern sind wir mit der Qualität der Überwachung insgesamt zufrieden.
Sie haben die stetigen Weiterentwicklungen erwähnt. Welche Neuerungen gab es 2021?
Wir haben per 1. Oktober 2021 die Überwachungsmethode angepasst. Bei chirurgischen Eingriffen mit Implantat gibt es nun eine einmalige Nachverfolgung nach 90 Tagen. Zuvor fand die Nachverfolgung in zwei Schritten – nach 30 Tagen und nach einem Jahr – statt. Auch läuft die Nachverfolgung nach der Entlassung nun automatisiert ab. Dafür kommt ein digitales Tool zum Einsatz, das kürzlich von Swissnoso und SwissRDL entwickelt wurde. Der Überwachungsprozess nach Austritt ist damit wesentlich einfacher geworden. Ziel ist, den Aufwand in den Institutionen zu verringern – ohne die Fähigkeit des Programms, Infektionen zu entdecken, zu stark zu beeinflussen.
2021 haben Sie an einer Studie zum Zusammenhang zwischen Überwachungsqualität und Infektionsraten mitgearbeitet. Wie sehen die Ergebnisse aus?
Die Studie ergab, dass bei bestimmten chirurgischen Verfahren die Qualität der Überwachung mit den Infektionsraten korrelierte. Institutionen mit einer niedrigen Infektionsrate neigten dazu, einen niedrigen Validierungsscore aufzuweisen, was Lücken im Überwachungsprozess widerspiegelt. Umgekehrt korrelierte eine hohe Infektionsrate mit einem hohen Validierungsscore respektive einer guten Überwachungsqualität. Mit anderen Worten: Je mehr man nach einer standardisierten Methode nach Wundinfektionen sucht, desto mehr Infektionen findet man auch. Vor diesem Hintergrund prüfen wir nun, ob der Validierungsscore künftig die heutige Methode zur Risikoadjustierung der Ergebnisse ergänzen könnte. Methodisch stehen wir aber vor der Herausforderung, dass die Validierungsscores nicht unbedingt mit dem analysierten und berichteten Überwachungszeitraum übereinstimmen.
Wie entwickeln sich die Wundinfektionsraten? Und was braucht es Ihrer Meinung nach, um diese weiter zu reduzieren?
13 Jahre nach der Einführung des Programms sehen wir bei sieben chirurgischen Eingriffen einen statistisch signifikanten Rückgang der Infektionsraten. Das ist sehr erfreulich. Schaut man die einzelnen Institutionen an, gehen die Ergebnisse aber zum Teil weit auseinander. Das zeigt, dass weiterhin Handlungsbedarf besteht. Ich bin überzeugt, dass durch eine aktive Überwachung weitere Verbesserungen möglich sind. Beispielsweise gibt es ein echtes Verbesserungspotenzial bei der Verabreichung der perioperativen Antibiotikaprophylaxe. Noch immer erhalten zu viele Patientinnen und Patienten die Prophylaxe nicht zum richtigen Zeitpunkt. Ob Antibiotikagabe, Haarentfernung oder Hautdesinfektion vor der Operation: Das neue SSI Intervention Modul von Swissnoso legt einen speziellen Fokus auf diese einfachen Massnahmen. Die ersten Monitoringergebnisse zu den Präventionsmassnahmen zeigen, dass es bei ihrer Anwendung vor Ort noch Verbesserungspotenzial gibt.
Wenn Sie zurückblicken – wofür sind Sie besonders dankbar?
Die vielen Kontakte und die enge Zusammenarbeit mit Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Fachgebieten haben mir immer sehr viel bedeutet. Es ist mir deshalb ein grosses Anliegen, dieses Interview mit einem Dank an alle Personen abzuschliessen, mit denen ich in diesen spannenden Jahren zusammenarbeiten durfte. Mein spezieller Dank geht an:
- Prof. Nicolas Troillet, Wissenschaftlicher Leiter des Programms SSI Surveillance
- Prof. Andreas Widmer, Präsident Swissnoso
- die Members von Swissnoso
- Marylaure Dubouloz und Katja Di Salvo, Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen Validation
- Christelle Perdrieu, neue Projektleiterin SSI Surveillance und Validierung
- das Generalsekretariat von Swissnoso
- Petra Busch, Regula Heller, Daniela Zahnd und Andrea Henneke als verantwortliche Ansprechpartnerinnen beim ANQ
- das Team von SwissRDL, insbesondere Kurt Schmidlin
- meinen Arbeitgeber, das Zentralinstitut der Spitäler, Spital Wallis
- alle Personen, die in Schweizer Spitälern und Kliniken für die Überwachung der Wundinfektionen zuständig sind
Marie-Christine Eisenring ist Spezialistin für Spitalhygiene und eidg. dipl. Expertin für die Infektionsprävention. Sie hat eine Weiterbildung zur Clinical Nurse Specialist und anschliessend ein Postgraduiertenstudium mit Diplom in Epidemiologie an der Universität London absolviert. Sie war medizinische Delegierte des IKRK, bevor sie ab 1994 für verschiedene Kantone und Organisationen im Bereich der Infektionsprävention tätig war. Sie koordinierte unter anderem das Programm zur Infektionsprävention im Kanton Wallis sowie das multizentrische Programm SSI Surveillance vor seiner Umsetzung auf nationaler Ebene. Marie-Christine Eisenring war Präsidentin der paritätischen Kommission für die Ausbildung im Bereich Infektionsprävention in der Westschweiz sowie Präsidentin des Berufsverbands SIPI (Spécialistes Infirmiers en Prévention de l’Infection). Auch engagierte sie sich in der nationalen Arbeitsgruppe für die Umsetzung einer nationalen Ausbildung. Sie war 13 Jahre lang Projektleiterin des Moduls SSI Surveillance und Validierung bei Swissnoso.
Fotos: © Geri Krischker / ANQ