Buen Vivir - Lost in Translation
El Buen Vivir wird im westlich geprägten Diskurs der Entwicklungstheorie oft unzureichend mit The Good Living oder dem guten Leben übersetzt. Dies lässt wichtige Elemente des in südamerikanischen Indigenenbewegungen verwurzelten Prinzips vermissen: Im spanischen Ausdruck selbst liegt nur eine Übersetzung der in verschiedenen Sprachräumen der Anden vorkommenden Begrifflichkeit vor. Hier ist das gute Leben nicht nur der Einzelperson, sondern des Menschen innerhalb eines gesellschaftlichen Kontexts in Verbindung mit seiner Umwelt, der Natur im Allgemeinen, gemeint.
Zutreffender wäre eine Übersetzung als „Good Living Together“ (Dietschy, 2013), des guten oder auch auskömmlichen Zusammenlebens (von Mensch und Umwelt). Als pluralistisches Konzept meint es also eher die guten Leben mehrerer Gemeinschaften oder „Good co-livings“ (Kothari, Demaria, Acosta, 2014, S. 367), wobei je nach Sprachraum auch die Übersetzungen differenzieren müssten (so wäre z.B. das aus der Sprache der Quechua stammende Sumak Kawsay mit dem idealen / perfekten Leben oder Leben in Harmonie zu übersetzen (vgl. Altmann, 2021)). Allein die Schwierigkeiten in der Übertragung des Begriffs zeigen schon seine Komplexität, aber auch seine Verwurzelung im lokalen Kontext.
Globale Bekanntheit erlangte der Begriff im Zusammenhang mit den verfassungsgebenden Versammlungen in Ecuador und Bolivien, in deren Nachhall, offenbar noch von großen Hoffnungen geprägt, unter anderem die Förderung harmonischer Beziehungen zwischen Mensch und Natur und die Anerkennung indigener Kulturen erwartet wurde. Diese Hoffnung wurde nicht erfüllt, wie Philipp Altmann weiterführend in seinem Vortrag hierzu anmerkt:
Altmann beschreibt das Problem des westlichen Verständnisses: Nicht nur fehle uns der im Bewusstsein immanente Begriff eines allen miteinander Verflochten-seins, auch die Beseeltheit der Natur durch verschiedene Geister oder Gottheiten sei unserem heutigen Empfinden nach in der sogenannten modernen Welt kaum nachzuvollziehen.
Umso problematischer scheint der Versuch das Buen Vivir auf unsere Lebensrealität ausweiten zu wollen, gar von einem globalen oder universellen Prinzip zu sprechen. Dieser Ansatz mag zum einen löbliche Vorsätze haben, zum anderen der Übersetzungsschwierigkeit geschuldet sein, dennoch zeigt er auch das Problem des globalen Nordens mit den sogenannten Entwicklungsländern: Ein vermeintliches Besserwissen kombiniert mit dem Recht, sich alles anzueignen und auch das Angeeignete besser machen zu wollen bzw. es sich ohne Rücksicht auf Verluste zu eigen zu machen.
Nach Altmann entleert eine Vergrößerung des Begriffs auf den weltweiten Kontext, das Miteinander-Verbinden von Post-Development und Degrowth, ihn somit seiner eigentlichen Bedeutung. Auf diese Befürchtung Altmanns geht auch Timmo Krüger ein, allerdings sieht er „kaum offensiv geführte Kontroversen zwischen den Verfechter_innen einer explizit indigenen und den Befürworter_innen einer pluralistischen Programmatik des buen vivir“ (Krüger, 2018, S. 50). Seiner Meinung nach agieren diese unterschiedlichen Ansätze parallel und Konflikte gäbe es nur in Bezug auf die politische Umsetzung mit den jeweiligen Regierungen. So käme es sogar zu Allianzen zwischen den unterschiedlichen Strömungen, die sich einig seien in ihrer Ablehnung der immer noch (neo-)extrativistischen Wirtschaftspolitik.
Die Erschaffung der Dritten Welt
Buen Vivir, das verstanden werden kann als ein erfolgreiches, befriedigendes und würdevolles Leben, steht der neoklassischen Ökonomie und ihrem Begriff von Entwicklung entgegen. Standardisierte Indikatoren, die Armut anzeigen sollen, sorgen erst dafür, dass als arm, unterentwickelt und hilfsbedürftig kategorisierte Gesellschaften, die sich selbst ein erfülltes Leben führen sehen, unsichtbar, unwichtig und ohne Einfluss sind (vgl. Lang, 2020). Gleichzeitig werden mit Strategien zur Entwicklungshilfe die Gewissen derer beruhigt, die wirkliche Armut erst erzeugt haben. Diese Art der Entwicklung zeigt ihr Scheitern immer wieder aufs Neue; das Beispiel des Buen Vivir könnte genutzt werden, um einen Weg aus dieser Sackgasse hin zu neuen Ansätzen, zu einem neuen Blick auf Entwicklung zu finden – zum Post-Development .
Näheres zu diesen Kategorien, ihren Ursprüngen und der Erforschung ihrer Anwendung legt Leire Iriarte im ersten Teil des folgenden Vortrages dar. Im zweiten Teil zeigt Miriam Lang darauf aufbauend anhand zweier Beispiele die praktische Anwendung des Buen Vivir im täglichen Leben. Außerdem geht sie auf das Scheitern der politischen Umsetzung ein.
Die auf der Nordhalbkugel festgelegten Indikatoren der Armut zeigten somit vielmehr ein Verhältnis zum Kapitalismus an, als ein Abbild von Glück, Gesundheit oder Zufriedenheit mit dem Leben. Buen Vivir beschreibt im Gegensatz zu im Kapitalismus um Wohlstand konkurrierenden Individuen ein selbstbestimmtes Leben in Gemeinschaft, im Einklang mit der Natur und im Gleichgewicht der Ressourcen. Der Mensch als Teil seiner Umgebung in einem System, das Umwelt oder Natur gar nicht als etwas Getrenntes vom Menschen kennt – so sehr ist diese Einheit im Denken verankert, dass man sie gar nicht getrennt voneinander denken kann.
„‘Sustainable development‘ is an oxymoron“
(Kothari, Demaria, Acosta, 2014, S. 362).
Als eine Einstellung zum Leben, die als solche nicht mit dem Kapitalismus vereinbar ist, wurde sie zwar in die Verfassungen von Ecuador und Bolivien aufgenommen, scheiterte hier aber an der Umsetzung in diesen und verlor innerhalb der Staatsapparate ihre eigentliche Bedeutung. Es fand eine Umdeutung hin zu einer Möglichkeit der Modernisierung, der Entwicklung und des Wachstums statt (vgl. Altmann, 2021).
Diese Auslegung sorgte zwar für eine bessere Verständlichkeit und Sichtbarkeit in der westlichen Welt, für eine vermeintliche Vereinbarkeit mit kapitalistischen Grundsätzen, es schien ein Weg zum besseren, nachhaltigen Kapitalismus gezeichnet, jedoch haben diese Interpretationen mit dem ursprünglichen Wesen des Buen Vivir kaum noch etwas gemein. Dass der Teil der Welt, der die kolonialen Realitäten schuf, sich diese Begriffe aneignet und sie überformt, könnte als geradezu zynische Fortschreibung eben dieser Realitäten interpretiert werden.
Die Aneignung führte zum Verschwinden der eigentlichen Bedeutung. Im Gegensatz zum heute verbreiteten Ansatz des „guten Lebens“ für alle, des Buen Vivir als globalen Konzepts, würde eine erfolgsversprechende Implementierung des Konzepts in weltweiter Hinsicht bedeuten, was es in den Ursprungsländern auch heute schon bedeutet: Nicht ein Buen Vivir für alle, sondern vielmehr viele (los Buenos Vivires) in örtlich begrenzten Gemeinschaften (vgl. Lang, 2020). Diese Gemeinschaften mit selbst gesetzten Zielen nicht miteinander zu vergleichen, sondern in ihrer Individualität bestehen und gedeihen zu lassen, stellte unser System der kapitalistischen Konkurrenz und auch Homogenität der Systeme bisher vor eine unlösbare Aufgabe. Sich nicht zu lösen von der Vorstellung, es besser zu wissen, vom Glauben das einzig Richtige zu leben und es allen anderen angedeihen lassen zu wollen, hat die Entwicklungspolitik an den heutigen Punkt gebracht. Nicht sehr weit, nicht sehr erfolgsversprechend. Ganz im Gegenteil: Durch das Setzen willkürlicher Parameter der Armut erschaffen wir diese vielerorts erst.
„Aus dieser kritischen Perspektive kann Entwicklung als Apparat (dispositif ) beschrieben werden, der das Wissen über die Dritte Welt mit Machtausübung und Intervention verbindet und damit die Gesellschaften der Dritten Welt erst kartiert und produziert. Mit anderen Worten, Entwicklung schafft die gegenwärtige Dritte Welt stillschweigend und ohne dass wir dies bemerken. Mit Hilfe dieses Diskurses werden Menschen, Regierungen und Gemeinschaften als „unterentwickelt“ eingestuft (oder Bedingungen ausgesetzt, unter denen sie sich selbst so sehen) und dementsprechend behandelt. […] Wer Entwicklung als Diskurs verstehen, will, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, warum so viele Länder begannen, sich als unterentwickelt zu begreifen […]“
(Escobar, 1992, zitiert nach Fischer, 2008, S. 265 - 266).
Dieser Annahme zufolge hat der globale Norden die Dritte Welt produziert, sie geschaffen, um sie zu lenken. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die „Erfindung des Abnormalen“ (Escobar, 1992, zitiert nach Fischer, 2008, S. 268).
Das Vernetzt sein aller sowohl im lokalen als auch im globalen Sinne sollte durchaus zum voneinander Lernen und zum Austausch von Wissen und Ressourcen führen, diese Wechselseitigkeit wäre ganz im Sinne des Buen Vivir, jedoch ohne eine Hierarchie, ein Werten und Konkurrieren, vielmehr im Bewusstsein der Bereicherung eines pluralen Beisammenseins. Der vergleichende Blick, der Versuch einer ordnenden Abfolge von unterentwickelt zu entwickelt, schafft mehr Ungleichheit als Wege zur Gleichheit, geschweige denn Hilfe, wo sie nötig wäre.
weiterführende Literaturhinweise:
- Acosta, Alberto: Das „Buen Vivir“. Die Schaffung einer Utopie. In: Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft (4/2009), S. 219 - 223
- Altmann, Philipp (2013): Die Indigenenbewegung in Ecuador. Diskurs und Dekolonialität.
- Estermann, Josef (2012): „Gut Leben“ als politische Utopie. In: Estermann, Josef (2021): Interkulturelle Philosophie / Andine Philosophie. Eine Anthologie, S. 29 - 48.
- Fatheuer, Thomas (2011): Buen Vivir. Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur.
- Gudynas, Eduardo: Politische Ökologie: Natur in den Verfassungen von Bolivien und Ecuador. In: Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft (4/2009), S. 214 - 218.
- Gudynas, Eduardo: Buen Vivir. Das gute Leben jenseits von „Entwicklung“ und „Wachstum“. In: Lang, Miriam (Hrsg.): Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation, S. 28 - 45.
- Knauß, Stefan (2020): Panchamama als Ökosystemintegrität – Die Rechte der Natur in der Verfassung von Ecuador und ihre umweltethische Rechtfertigung.
- Konzeptwerk Neue Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.) (2017): Degrowth in Bewegung(en). 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation.
- Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten (Hrsg.): Journal für Entwicklungspolitik (vol. XXVIII 4-2012). Post-Development: Empirische Befunde.
- Rieckmann, Marco (2017): Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Großen Transformation – Neue Perspektiven aus den Buen Vivir- und Postwachstumsdiskursen.
- Weber, Susanne (2020): ‚Buen Vivir‘ als Zukunftsmodell des Gemeinwohls. (Hier werden aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Gemeinwohlökonomie und die Zukunftsstrategien der Commons mit dem Prinzip des Buen Vivir in Verbindung gebracht.)
Quellen:
- Altmann, Philipp (2021): Postdevelopment und Buen Vivir: Postkoloniale Perspektiven auf Entwicklung.
- Dietschy, Beat; Larrea, Carlos (2013): Buen Vivir – the concept of good living – in a Bolivian contex.
- Escobar, Arturo (1992): Die Hegemonie der Entwicklung. In: Fischer, Karin (Hg.) (2008): Klassiker der Entwicklungstheorie. Von Modernisierung bis Post-Development, S 264 - 277.
- Kothari, Ashish; Demaria, Federico; Acosta, Alberto (2014): Buen Vivir, Degrowth and Ecological Swaraj: Alternatives to sustainable development and the Green Economy. In: Development 57(3-4), S. 362 - 375.
- Krüger, Timmo (2018): Politische Strategien des buen vivir. Sozialistische Regierungspolitik, indigene Selbstbestimmung und Überwindung des wachstumsbasierten Entwicklungsmodells. In: Peripherie (1/2018), S. 29 - 54.
- Lang, Miriam; Leire Iriarte (2020): Buen Vivir: Alternative Visions to Development.
Bildnachweise:
Alle Abbildungen über Unsplash in der Reihenfolge ihrer Verwendung:
- Rouichi, Azzedine (2021): Guangaje, Ecuador: After the blessing of a water spring. A mother with a child returns home.
- Romero, Dan (2018): Cajas National Park, Cuenca, Ecuador.
- Derksen, Lesly (2019): Market Scene, La Paz, Bolivia.
- Snowscat (2018): https://unsplash.com/photos/ahAHZzVEEjo
- Monica, Nick (2020): Walking to breakfast after Sunday service in Baños, Ecuador.